Der zweite Teil des vorliegenden Briefes bezieht sich auf Algebren. Beachte: Zwar ist dieser Brief nicht datiert, er wurde aber allem Anschein nach im Januar 1932 verfasst. Zu diesem Zeitpunkt war es schon bekannt, dass jede zentrale einfache Algebra über einem Zahlkörper zyklisch ist. Das war nämlich im November 1931 von Hasse, gemeinsam mit Richard Brauer und Emmy Noether bewiesen worden, und Artin hatte davon Kenntnis. Siehe den vorangehenden Brief Nr.40. Damals hatte Artin geäußert, er sei gespannt, wie es weiter geht.
Und er hoffte, dass Hasse seinen Satz „vermutlich bald publizieren“ werde. In der Tat: Es war Hasse gelungen, die Arbeit von Brauer, Hasse und E.Noether [BHN32] noch in dem Hensel-Festband des Crelleschen Journals unterzubringen, und dieser Band trägt das Erscheinungsdatum vom 6.Januar 1932. Dieser Band ist offensichtlich schon in Hamburg eingetroffen, sodass Artin den Text der Arbeit kennt und demnach sagen kann, er werde in seinem Kolleg „Ihre neue Arbeit“ vortragen.152
Zuvor aber, so berichtet Artin, bringt er in seinem Kolleg die Hassesche Arbeit über -adische Schiefkörper. Es handelt sich um die Arbeit [Has31b], die Artin schon früher in seinem Brief Nr.35 vom 27.11.1930 angesprochen hatte; vgl. 35.2. Hasse hatte dort gezeigt, dass jeder -adische Schiefkörper zyklisch ist. Gleichzeitig hatte sich ergeben, dass im Lokalen ein Zerfällungskörper K allein durch seinen Grad gekennzeichnet ist, genauer: K ist dann und nur dann ein Zerfällungskörper, wenn sein Grad ein Vielfaches des Schurschen Index des Schiefkörpers ist. Dieser Satz ist der Schlüssel für den Zyklizitätssatz von Brauer-Hasse-Noether, und daher ist es verständlich, dass Artin dieses Ergebnis in seinem Kolleg behandeln will, bevor er an die neue Arbeit von Hasse geht.
Bei der „amerikanischen Arbeit“ handelt sich um Hasses Arbeit [Has32b], die 1932 in den Transactions of the American Mathematical Society erschien. Darin entwickelt Hasse die Theorie der zyklischen Algebren über Zahlkörpern. Hasse hatte die Arbeit schon im Mai 1931 eingesandt, jedoch erschien sie erst nach einiger Verzögerung im Jahre 1932. Zum Zeitpunkt der Einsendung stand es noch nicht fest, dass jede einfache Algebra über einem Zahlkörper zyklisch ist, wie es Hasse vermutete. Bei Erscheinen der amerikanischen Arbeit war der Beweis jedoch schon gelungen, sodass also die Arbeit nunmehr als eine Strukturtheorie aller einfachen Algebren über Zahlkörpern angesehen werden konnte.
Aufgrund eines Missverständnisses hatte man versäumt, die Korrekturbogen von [Has32b] an Hasse zu senden, sodass er keine Gelegenheit mehr hatte, die vielen Druckfehler zu verbessern, und er konnte auch keine Änderungen oder Zusätze mehr anbringen. Daher sah sich Hasse genötigt, eine gesonderte Note hinterher zu publizieren, in welcher er auf 4 Seiten alle Korrekturen und Änderungen auflistete [Has32a].
In einem gesonderten Kapitel von [Has32b] hatte Hasse die Noethersche Theorie der Faktorensysteme und der verschränkten Produkte dargestellt, denn es war nicht anzunehmen, dass diese Theorie bei den amerikanischen Lesern als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Emmy Noether hatte darüber zwar 1929 in ihrer Göttinger Vorlesung vorgetragen und es gab eine (von Deuring angefertigte) Vorlesungsausarbeitung, aber eine Publikation war noch nicht erfolgt. Hasse hatte Emmy Noether gefragt, ob sie mit der Aufnahme ihrer Theorie in seine Arbeit einverstanden sei, und sie hatte zugestimmt. Sie hatte auch das Manuskript zur amerikanischen Arbeit Hasses gelesen und kommentiert; vgl. [LR06].
Im vorliegenden Brief von Artin geht es um eine Ungenauigkeit in einem Beweis, von der Hasse meinte, dass sie ihm unterlaufen sei. Es handelt sich um die Frage, wie sich ein verschränktes Produkt bei Grundkörpererweiterung verhält. Gegeben sei eine Galois-Erweiterung K|k mit Galoisgruppe G, sowie eine zentrale Algebra A über k, die sich als verschränktes Produkt von K mit einem Faktorensystem a = {a,} aus H2(G,K×) darstellen lässt: A = (K,a). Es sei nun k' ein Oberkörper von k und Kk' das Kompositum. Die Galoisgruppe von Kk'|k' ist eine Untergruppe der Galoisgruppe von K|k; es bedeute a' die Restriktion von a auf diese Untergruppe. Dann gilt
wobei ~ die Äquivalenz (im Sinne der Brauergruppe) von Algebren bedeutet.
Heute gehört dieser Satz zu den funktionalen Grundtatsachen über die Brauergruppe und deren Darstellung im Rahmen der Kohomologie. Damals musste das explizit vorgerechnet werden, wobei die entsprechenden Begriffsbildungen noch nicht zum Fundus der bekannten Grundkenntnisse gerechnet werden konnten. Hierbei war Hasse offenbar eine Lücke in seiner Beweiskette aufgefallen. Er hat diese dann in der Korrektur-Note [Has32a] korrigiert.153 Offenbar hatte Hasse dies an Artin geschrieben, und Artin antwortet nun, dass es darauf gar nicht ankomme, sondern dass die entsprechende Behauptung in [Has32b] auch ohne weitere Erklärung „beinahe trivial“ ist.
Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass Hasse mit einem abstrakten Existenzbeweis in der Zahlentheorie niemals ganz zufrieden war, sondern er wünschte sich einen solchen ergänzt durch explizite Algorithmen, wenn irgend möglich. So auch hier, in der Theorie der einfachen Algebren.
Da nun feststand, dass jede einfache Algebra über einem Zahlkörper eine Darstellung als zyklisches verschränktes Produkt besitzt, so entstand die Aufgabe, eine solche Darstellung explizit herzustellen, wobei die Algebra gegeben wird z.Bsp. durch eine Basis über ihrem Zentrum, zusammen mit den zugehörigen Multiplikationskonstanten.
Es ist anzunehmen, dass Hasse dieses Problem in seinem vorangegangenen Brief an Artin erwähnt hatte, und dass Artins „Desideratum“ eine Antwort darauf ist.
Bemerkenswert ist dabei erstens, dass Artin direkt auf die lokalen -adischen Invarianten der Algebra zusteuert. Diese Invarianten waren von Hasse in seiner amerikanischen Arbeit [Has32b] definiert worden und er hatte gezeigt, dass diese ein vollständiges Invariantensystem für die Algebra liefern (bis auf Äquivalenz von Algebren im Sinne der Brauergruppe). Artin kannte also die amerikanische Arbeit oder zumindest ihren Inhalt.
Zweitens aber finden wir es bemerkenswert, dass Artin unmissverständlich sagt, dass die -adische Invariante der Algebra mit Hilfe eines -adischen Algorithmus berechnet werden soll, der also im -adischen Grundkörper k verläuft. Das war deshalb von Bedeutung, weil ja zu dem damaligen Zeitpunkt die Hassesche Definition der lokalen Invarianten noch nicht durch lokale Überlegungen zustande kam, jedenfalls nicht für die verzweigten Stellen. Denn Hasse hatte seine Definition der Invariante auf die vorangegangene Definition des lokalen Normsymbols gegründet, und diese konnte damals noch nicht rein lokal gegeben werden, sondern sie beruhte auf dem globalen Artinschen Reziprozitätsgesetz (siehe 26.1). Wenn also Artin jetzt einen „in k verlaufenden“ Algorithmus anvisiert, so sagt er damit gleichzeitig, dass es einen solchen Algorithmus geben müsse, d.h. dass die Definition der lokalen Invarianten der Algebra rein lokal gegeben werden könne.
Das war allerdings die allgemeine Meinung schon vorher gewesen, und auch Hasse selbst hatte dies als wünschenswert bezeichnet; vgl. 26.1 und 26.2. Es ist nun bemerkenswert, dass es Hasse schon wenige Wochen nach diesem Brief von Artin glückte, eine rein lokale Definition des Normsymbols zu geben. Dies übernahm er in die Arbeit [Has33a], die er Emmy Noether widmete und deren Manuskript er zum 23.März 1932, also ihrem 50.Geburtstag, an Emmy Noether schickte. Die entscheidende Anregung für die lokale Definition des Normsymbols scheint jedoch nicht von Artin, sondern von Emmy Noether gekommen zu sein, die schon seit etwa einem Jahr Hasse bedrängt hatte, danach zu suchen.154
Aber die Möglichkeit einer lokalen Definition des Normsymbols und damit der Hasseschen Invariante führt nicht automatisch zu einem expliziten und „übersichtlichen“ -adischen Algorithmus zur Berechung der Invariante, wie sich ihn Artin wünscht. Die Situation stellt sich wie folgt dar:
Es sei k = k ein lokaler Körper und eine zentrale einfache Algebra über k. Nach der Hasseschen Definition in [Has32b] hat man zunächst denjenigen maximalen Teilkörper Z von aufzusuchen, der unverzweigt ist. Dieser ist eindeutig bestimmt (bis auf innere Automorphismen von ). Danach hat man als verschränktes Produkt von Z mit seiner Galoisgruppe darzustellen; letztere ist zyklisch und wird durch den zugehörigen Frobenius-Automorphismus erzeugt. Dieses verschränkte Produkt wird somit gegeben durch ein Element a k, das modulo Normen aus Z bestimmt ist, sodass es nur auf seinen Wert v(a) in der kanonischen Bewertung von k ankommt. Die lokale Invariante von ist dann der Quotient von v(a) und dem Grad n von Z.
Was also Artin möchte, ist ein Algorithmus, der aus den gegebenen Multiplikationskonstanten cik von A ein solches Element a und seinen Wert v(a) modulo n zu berechnen gestattet.
Aus dem letzten Satz in Artins Brief können wir entnehmen, dass sich Artin bewusst war, dass es sich um eine schwierige Aufgabe handelt. Auch Hasse wird das gewusst haben. Immerhin hat Hasse dieses Desideratum im Auge behalten. Viele Jahre später hat er seinem Schüler Herbert Benz empfohlen, dieser Sache nachzugehen. Benz hat das getan und im Jahre 1967 in seiner Hamburger Habilitationsschrift erste Ergebnisse in dieser Richtung publiziert [Ben67]. Benz geht dabei davon aus, dass die Algebra bereits als verschränktes Produkt eines galoisschen Körpers K mit seiner Galoisgruppe gegeben ist. Aber K braucht nicht unverzweigt zu sein, und somit entsteht die Aufgabe, das zu K gehörige Faktorensystem c, umzurechnen auf das zu Z gehörige, also die oben definierte Zahl a des Zentrums k zu berechnen.
Die Methoden, die Benz dazu vorschlägt, sind durchaus neuartig und bilden eine wichtige Ergänzung zur Arithmetik der (lokalen) Algebren. Bisher hatte man nur maximale Ordnungen in Betracht gezogen. Nunmehr aber zeigt sich durch die Resultate von Benz, dass es für gewisse Aufgaben zweckmäßig sein kann, auch nichtmaximale Ordnungen in Betracht zu ziehen, nämlich die von ihm so genannten „Hauptordnungen“, die heute unter dem Namen „hereditäre Ordnungen“ bekannt sind. Jedem maximalen Teilkörper K von lässt sich nämlich eine eindeutig bestimmte Hauptordnung von zuordnen, aus deren Arithmetik sich die Struktur des zugehörigen Faktorensystems weitgehend ablesen läßt. Wenn K = Z der unverzweigte Körper ist, dann handelt es sich um eine Maximalordnung, aber das gilt nicht allgemein. Wir können hier nicht auf die Details der Benzschen Arbeit eingehen, sondern wollen nur darauf hinweisen, dass es Benz damit gelingt, im Falle eines zahm verzweigten Körpers K die ihm von Hasse gestellte Aufgabe zu lösen, nämlich die zu K gehörige Darstellung von als verschränktes Produkt zu transformieren in die Hassesche Normalform, aus der die Invariante von abgelesen werden kann. Allerdings wird dies in [Ben67] nur skizziert. Benz kündigte an, er werde die Arbeit fortsetzen und insbesondere auch den wild verzweigten Fall erledigen. Aber der zweite Teil der Arbeit ist nie erschienen. Es würde sich lohnen, diese Sache weiter zu verfolgen.155