Hier geht es noch einmal um Korrekturen, diesmal aber über die Korrekturfahnen einer Arbeit von Hasse, die dieser an Artin zur Information (als „Preprint“) geschickt hatte. Darin entwickelte Hasse die Arithmetik der Algebren. Diese Arbeit [Has31b] ist als bahnbrechend zu bezeichnen, denn Hasse führt darin nach dem Henselschen Vorbild die lokale Betrachtungsweise der Algebren ein, die dann ein Jahr später zum Lokal-Global-Prinzip für Algebren führt und heute zum selbstverständlichen Rüstzeug der Zahlentheoretiker gehört.
Es ist kein Zufall, dass Hasse diese Korrekturen gerade an Artin geschickt hatte. Denn Artin selbst hatte kurz zuvor eine eigene große Arbeit publiziert, in der er die Arithmetik der Algebren über Zahlkörpern entwickelt, in Fortführung eines Ansatzes von Speiser [Spe27]. Artin hatte seine Arbeit in drei Teile aufgeteilt: [Art28a], [Art28b], [Art28c], erschienen in den Hamburger Abhandlungen. Diese Arbeiten werden von Hasse in seinem Vorwort erwähnt. Zunächst spricht Hasse von der dritten der Artinschen Arbeiten [Art28c]; darin wird u.a. das Brandtsche Gruppoid der Ideale und Idealklassen definiert und untersucht, als Analogon zur Idealklassengruppe bei den Zahlkörpern. Dazu aber, so sagt Hasse,
„erfordert die Durchführung der Artinschen Theorie eine Ausdehnung der Wedderburnschen Struktursätze auf allgemeinere Ringe, etwa solche, wie sie …durch Restsysteme nach einem Primzahlpotenzmodul gegeben werden …“
womit er die zweite Artinsche Arbeit [Art28b] meint, in der die Theorie der heute sogenannten „Artinschen Ringe“ entwickelt wird, d.h. der Ringe, in denen neben dem aufsteigenden auch der absteigende Teilerkettensatz für Ideale gilt.75 Diese sind nicht mehr Algebren über einem Körper, in welchen die ursprünglichen Wedderburnschen Sätze gelten; daher müssen die Wedderburnschen Struktursätze auf diesen Fall verallgemeinert werden. Heute ist das Routine, damals war es jedoch ein ganz neuer Gesichtspunkt. Hasse erkennt an, dass
„diese Artinschen Struktursätze im Rahmen einer algebraischen Strukturtheorie allgemeiner nichtkommutativer Ringe, wie sie etwa in der neuen großen Arbeit von Fräulein Noether niedergelegt ist76 , von hohem Interesse ist …“
aber, so scheint es ihm, ist es andererseits wertvoll, mit den ursprünglichen Wedderburnschen Struktursätzen auszukommen. Das kann Hasse nun erreichen. Er sagt:
„Ich baue den ursprünglichen Speiserschen Ansatz in demselben Sinne aus, wie es die Henselsche Arithmetik der algebraischen Zahlkörper mit dem ursprünglichen …Ansatz tut.“
Das bedeutet: Statt Kongruenzen nach beliebig hohen Primzahlpotenzmoduln zu betrachten, wird der p-adische Limes genommen. Dadurch gelangt Hasse zu den Lokalisierungen von Algebren. Jede Algebra über einem Zahlkörper bestimmt also für jede Primstelle des Grundkörpers eine Lokalisierung, und die Strukturtheorie dieser Lokalisierungen gewährt Aufschlüsse über die Arithmetik der ursprünglichen Algebra.
Mit dieser Sichtweise eröffnet Hasse in [Has31b] einen neuen Weg in der Algebrentheorie über Zahlkörpern, der sich als überaus fruchtbar erwiesen hat und heute zum Standard gehört. Wie bereits oben gesagt, führt dieser Ansatz schließlich über das Lokal-Global-Prinzip zur Beschreibung der Brauerschen Gruppe durch die sog. Hasseschen Invarianten. Und auch zu einem neuen Beweis des Artinschen Reziprozitätsgesetzes der Klassenkörpertheorie. Siehe [Has33a].
Es erscheint uns bemerkenswert, dass Artin die Bedeutung der Hasseschen Arbeit [Has31b] sofort erkennt; er nennt sie „schön und interessant“ und findet, dass nun „wirklich alles sehr einfach geworden“ ist. In der Tat ist die von Hasse begründete Theorie der lokalen Algebren nun sehr einfach geworden: jede solche Algebra ist zyklisch und durch ihre Invariante gekennzeichnet.77 Wir erkennen hier eine Tendenz, die immer wieder in der Entwicklungsgeschichte der Mathematik zu beobachten ist, nämlich: Vereinfachung bahnt den Weg zu neuen Ergebnissen.
Sehr bemerkenswert ist auch, dass Artin schon in diesem Brief seine definitive Meinung äußert, dass jeder (endlichdimensionale) Schiefkörper über einem Zahlkörper zyklisch ist. Artin bezieht sich dabei auf Hasses „Satz über die Schiefkörper“, das ist der Satz 38 in [Has31b], in dem gezeigt wird, dass jeder (endlichdimensionale) Schiefkörper über einem lokalen Körper zyklisch ist.78 Vielleicht hatte Hasse ihn um seine Meinung dazu gefragt. In der Tat erscheint das wahrscheinlich, denn schon seit einiger Zeit beschäftigte sich Hasse mit dieser Frage. Er hatte z.Bsp. Richard Brauer schon früher, in einem Brief vom 16.3.1930, gefragt,
„…ob Ihnen über dem rationalen Körper als Zentrum oder einem gewöhnlichen algebraischen Zahlkörper k als Zentrum ein Schiefkörper bekannt ist, für den es keinen Abelschen oder wenigstens keinen zyklischen maximalen Teilkörper gibt“.
Brauer hatte damals geantwortet:
„Auch die …von Ihnen gestellte Frage, ob es Schiefkörper gibt, die nicht vom Dicksonschen Typ sind (d.h. die keinen zyklischen maximalen Teilkörper haben), weiß ich nicht.“
Im selben Brief, also schon im März 1930, hatte Hasse an Brauer seine Ergebnisse über p-adische Schiefkörper im Detail mitgeteilt, so wie er es jetzt, in der Form von Korrekturbogen, an Artin mitgeteilt hat.
Artins Antwort ist im Vergleich zu Brauers ziemlich bestimmt und kategorisch. Allerdings ist er offenbar doch noch nicht vollständig überzeugt; er scheint es immerhin für möglich zu halten, dass es Gegenbeispiele gibt, denn er fragt Hasse danach.
Siehe dazu auch den nächsten Brief Nr.36 vom 24.1.1931, insbesondere 41.2.