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06.03.1934, Noether an Hasse



Inhalt:

Aus Bryn Mawr. Dank für Separata. Publikationspläne. Besuch in Göttingen. Lehrauftrag für Deuring? Bericht üb. Bryn Mawr und Princeton. Olga Taussky. Albert. Vandiver. Brinkmann über Ganzheit von Artins L-Funktionen.


Bryn Mawr, Pa. U.S.A., 6. 3. 34

Lieber Herr Hasse!

Endlich komme ich dazu, Ihnen für die Separatensendung, die höhere Algebra I und die Karte aus Kassel zu danken.1) Ich wollte nämlich auch die beigelegte Skizze zur Klasseneinteilung im galoisschen Fall mitschicken, und das nahm Zeit.2) Ob man die Sache wirklich als Zerlegungsgesetz ansehen darf, hängt wohl davon ab ob die gegebene Charakterisierung zu einem Existenzsatz ausreicht; und davon weiß ich garnichts. Ich will erst einmal Ihre kleine Note zur expliziten Konstruktion im zyklischen Fall verstehen; vielleicht gibt die zusammen mit den Deuringschen Überlegungen über Galoismoduln den Schlüssel - Scholz existiert ja auch! 3) Aber das ist so unsicher daß ich wohl erst einmal das Vorhandene ausarbeiten und publizieren werde - ich hoffe aber daß die Skizze es ungefähr verständlich macht.

Die Überlegungen sind heuristisch alle hyperkomplex; es handelt sich um eine Klasseneinteilung nach den Invarianten inbezug auf die Zerlegungskörper einzeln, wozu noch die Zentrumsrelationen kommen (d.h. im abelschen Fall nur direkte Produkte von Idealalgebren betrachtet werden, wie ich Ihnen im vorigen Jahr in Marburg erzählte). Es war aber dann bequemer und vor allem präziser, unabhängige Definitionen zu geben: der Wertebereich entspricht dieser Invariantengruppe. Wesentlich ist, daß die Einsklasse der Frobeniuseinteilung im modifizierten Sinn wieder zugeordnete Gruppe wird; statt des vollen Strahls tritt der Teilstrahl (S. 3). Die Anordnung ist genau wie bei Chevalley. (An Chevalley und Deuring gehen Durchschläge, eventuell schicken Sie Ihr Exemplar an Artin weiter. Mehr hat die Maschine nicht geleistet, einen ganz schlechten Durchschlag habe ich mir zurückbehalten.) 4)

Von den Göttinger Studenten - Witt, Bannow, Tsen - habe ich gehört, daß Sie im nächsten Semester wahrscheinlich schon in Göttingen wären? Stimmt das? Ich würde es mir sehr wünschen, da ich einstweilen vorhabe gegen Anfang Juni für ein paar Wochen nach Göttingen zu kommen; aber ich glaube nicht recht daß es bei Ihnen so schnell geht. Ich wollte Ihnen aber auf alle Fälle wegen meines Lehrauftrags schreiben, worüber ich im Herbst schon mit F. K. Schmidt gesprochen habe. Glauben Sie nicht daß es möglich ist, daß Deuring ihn bekommt? Ein Lehrauftrag ist ja im Grunde das was ihm am meisten liegt, und ich möchte es ihm sehr wünschen, auch das Zusammenarbeiten mit Ihnen wovon beide Teile viel hätten! 5) Er schrieb mir gerade daß er etwas über Algebraisierung der “komplexen Multiplikation” nachgedacht habe - ohne noch ganz eingedrungen zu sein - was aber mit der Frage zusammenhängt, gegeben algebraischer Funktionenkörper mit Koeffizienten aus algebraischem Zahlkörper: welche Divisorenklassen haben endliche Ordnung? 6) Sind da nicht auch Beziehungen zu Ihrer Riemannschen Vermutung, die sie wie Sie schreiben, jetzt rein algebraisch im elliptischen Fall haben.7) Und sind Sie da noch weitergekommen?

Die Leute hier sind alle von großem Entgegenkommen und einer natürlichen Herzlichkeit, die einen direkt bekannt sein läßt, auch wenn es nicht sehr tief geht. Eingeladen wird man beliebig viel; ich habe auch allerhand interessante, nicht zum College gehörige Leute kennen gelernt. Im übrigen mache ich hier ein Seminar mit drei “girls” - students werden Sie nur selten genannt - und einem Dozenten, und grad lesen sie mit Begeisterung van der Waerden Bd. I, eine Begeisterung die bis zum Durcharbeiten aller Aufgaben geht - sicher nicht von mir verlangt. Dazwischen schiebe ich etwas Hecke, Anfangskapitel.8) Für nächstes Jahr gibt es aber, echt amerikanisch, ein Emmy-Noether-Fellowship, das wohl unter eine Schülerin von MacDuffee und eine von Manning-Blichfeldt-Dickson verteilt wird; die erstere scheint etwas Niveau zu haben. Außerdem kommt wahrscheinlich Frl. Taussky mit einem Bryn Mawr Stipendium her9); sie hatte sich schon voriges Jahr darum beworben, da wurde es aus Mangel an Mitteln nicht verteilt - früher wurden fünf solcher auswärtigen Stipendien verteilt, die Depression zeigt sich überall! Schließlich hat sich auch eine Schülerin von Ore um ein National Research Fellowship für hier beworben.

Zum Gegengewicht habe ich seit Februar einmal wöchentlich eine Vorlesung in Princeton angefangen - am Institut und nicht an der “Männer”-Universität, die nichts Weibliches zuläßt, während Bryn Mawr mehr männliche Dozenten hat als weibliche, und nur in den students exklusiv ist. Ich habe mit Darstellungsmoduln, Gruppen mit Operatoren angefangen; Princeton wird in diesem Winter zum erstenmal, aber gleich gründlich, algebraisch behandelt. Weyl liest auch Darstellungstheorie, will allerdings zu kontinuierlichen Gruppen übergehen. Albert, in einem “Leave of absence” dort, hat vor Weihnachten etwas hyperkomplex nach Dickson vorgetragen, zusammen mit seinen “Riemann matrices”.10) Vandiver, auch “Leave of absence”, liest Zahlentheorie, zum ersten Mal seit Menschengedenken in Princeton.11) Und von Neumann12) hat - nach einem Überblick von mir über Klassenkörpertheorie im mathematischen Klub - gleich zwölf Exemplare Chevalley13) als Lehrbuch beordert (Bryn Mawr soll auch etwas davon bekommen!). Dadurch erfuhr ich auch, daß Ihre Ausarbeitung ins Englische übersetzt wird, jetzt hoffentlich in genügend vielen Exemplaren - darauf hatte ich die Leute schon gleich im Herbst gehetzt14). Ich habe wesentlich Research-fellows als Zuhörer, neben Albert und Vandiver, merke aber daß ich vorsichtig sein muß; sie sind doch wesentlich an explizites Rechnen gewöhnt, und einige habe ich schon vertrieben! Universität und Flexner-Institut15) zusammengenommen, sind mehr als sechzig Professoren und solche die es werden wollen dort; die vielen Research-fellows sind, auch wenn Princeton sich bemüht alles heranzuziehen, doch ein Zeichen der akademischen Arbeitslosigkeit.

Brinkmann, im Swarthmore-College, eine halbe Autostunde von hier, hat für eine Reihe von Gruppen - ich glaube Kongruenzgruppen und solche, die durch volle symmetrische dargestellt werden können - die Artinsche Vermutung bewiesen daß seine L-Funktionen ganz, durch explizite Berechnung der Charaktere. So weitgehend hat Artin doch wohl nicht gerechnet? Ich habe ihm jedenfalls gesagt, die Sache aufzuschreiben und zu publizieren; denke an Math[ematische] Annalen, wenn es neu und nicht zu kompliziert ist.16)

Nun herzliche Grüße Ihre Emmy Noether
                 

Anmerkungen zum Dokument vom 6.3.1934

1Seit dem letzten Brief aus Göttingen sind 6 Monate vergangen. Diesen Brief schrieb Noether in den USA am Bryn Mawr College.

2Diese Skizze haben wir in dem Nachlass von Hasse nicht gefunden. Wahrscheinlich handelte es sich um die Ausarbeitung, die Noether im Brief * vom 27.6.1933 in Aussicht gestellt hatte.

3Von Hasse war in den Mathematischen Annalen eine Arbeit Has:1933b erschienen: “Explizite Konstruktion zyklischer Klassenkörper.” Diese Arbeit wurde von Noether bereits in ihren Briefen ** vom 3. 3. und 23. 3. 1933 erwähnt. - Arnold Scholz hatte in den dreißiger Jahren eine Reihe von Arbeiten zur Klassenkörpertheorie publiziert, meist mit expliziten Konstruktionen und algorithmischer Begründung.

4Zu einer Publikation dieser Dinge ist es nicht mehr gekommen.

5Es ist für Emmy Noethers selbstloses Denken und Handeln bezeichnend, dass sie sich noch in ihrer Situation, nachdem man ihr den Göttinger Lehrauftrag weggenommen hatte, um die Zukunft ihres begabtesten Schülers Deuring kümmert und sich für ihn einsetzt. Allerdings hat Deuring den Lehrauftrag, der durch die Entlassung Emmy Noethers frei geworden war, nicht bekommen. Zwar hat er sich auf Veranlassung Hasses später (1935) in Göttingen habilitieren können, erhielt jedoch nach Einspruch von Tornier nicht die venia legendi in Göttingen, die Hasse für ihn beantragt hatte.

6Die Deuringsche Arbeit “Algebraische Begründung der komplexen Multiplikation” erschien erst 1949 in den Hamburger Abhandlungen: Deu:1949 . Aus dem Briefwechsel Hasse-Deuring ist zu entnehmen, dass die Grundidee dazu schon 1937 fertig gewesen ist. Es erscheint interessant, dass Deuring schon 1933 begonnen hatte, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.

7Im Laufe des Jahres 1933 hatte Hasse den ersten Beweis der Riemannschen Vermutung im elliptischen Fall, der sich auf die komplexe Multiplikation und Klassenkörpertheorie stützte, durch einen neuen Beweis ersetzen können, der rein algebraisch nur in Charakteristik p verlief, genauer: in Funktionenkörpern über endlichem Konstantenkörper. Anscheinend hatte Hasse ihr von diesem neuen Beweisansatz berichtet, und Noether spielt hier darauf an. In der Tat ist in der Hasseschen Theorie die Struktur der Gruppe der Divisorenklassen endlicher Ordnung von besonderer Bedeutung. Allerdings hatte sich Hasse zu diesem Zeitpunkt, soweit wir wissen, noch nicht mit algebraischen Funktionenkörpern über Zahlköpern beschäftigt. Das geschah erst später, beginnend in den Jahren 1938/1939, wie wir einem Brief von Hasse an A. Weil vom 7. 3. 1939 entnehmen.

8Heckes “Vorlesungen über die Theorie der algebraischen Zahlen” Hec:1923 sind erst 1981 ins Englische übersetzt worden; also hat Noether wohl die deutsche Ausgabe zugrundegelegt, d.h., sie konnte bei ihren Studentinnen Deutschkenntnisse voraussetzen. Dasselbe bei dem Algebra-Buch von van der Waerden vdW:1930 .

9Olga Taussky (die spätere Frau Taussky-Todd) kam tatsächlich mit einem Stipendium nach Bryn Mawr. Über ihre persönlichen Erinnerungen an diese Zeit mit Emmy Noether berichtet sie 1981 in einem Gedenkband Tau:1981 an Emmy Noether.

10Einige Jahre vorher, 1931, hatte Albert einen gewissen Anteil am Beweis des Satzes von Brauer-Hasse-Noether über die Zyklizität von Algebren. Vgl. den ersten Absatz in Noethers Brief * vom 22. 11. 1931. - Im Jahre 1937 publizierte Albert ein Lehrbuch “Modern higher algebra” Alb:1937 , welches zumindest im Titel den Anspruch erhebt, ein englisches Äquivalent zu van der Waerdens Buch “Moderne Algebra” vdW:1930 zu sein. Es ist anzunehmen, dass Noethers Vorlesung, die Albert in Princeton besuchte, einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung dieses Buches genommen hatte - neben dem Briefwechsel Alberts mit Hasse, der bis zum Jahre 1935 anhielt.

11Seit einer Reihe von Jahren tauschte Hasse mit Vandiver (in Austin, Texas) reprints aus, und es gab einige mathematische Korrespondenz zwischen ihnen. Vandiver hatte Hasse mindestens zweimal in Deutschland besucht, einmal in Halle und einmal in Marburg.

12John von Neumann war einer der ersten sechs Professoren des Institute for Advanced Study in Princeton.

13Es handelt sich wohl um die Thèse von Chevalley Che:1933a , in der die Klassenkörpertheorie ab ovo entwickelt wird und gut als “Lehrbuch” benutzt werden konnte. Diese Arbeit war 1933 im Journal Fac. Sci. Tokyo erschienen und hatte 111 Seiten.

14Gemeint ist die Ausarbeitung Has:1933a von Hasses Marburger Vorlesung 1932 über Klassenkörpertheorie. Diese war im Frühjahr 1933 verteilt worden, jedoch nur an solche Interessenten, die vorher ein Exemplar bestellt hatten. Wenn Noether schreibt, dass sie “die Leute schon im Herbst” auf eine wünschenswerte Übersetzung aufmerksam gemacht hatte, dann war das wohl in England (Oxford), als sich Noether dort aufhielt. Aus der Korrespondenz Hasse-Mordell wissen wir, dass tatsächlich ein Übersetzungsplan bestand. Dieser wurde jedoch später aufgegeben. Vgl. auch Brief * vom 5. 4. 1932, sowie Brief * vom 25. 11. 1932, sowie die Anmerkungen zu diesen Briefen.

15Flexner-Institut = Institute for Advanced Study.

16Es handelt sich um Heinrich W. Brinkmann, der von 1933-1969 am Swarthmore College unterrichtete, aber während dieser Zeit anscheinend nichts publizierte. Wir haben jedenfalls keine Arbeit von Brinkmann zu diesem Thema gefunden. (Noether schreibt irrtümlich “Brinckmann” statt “Brinkmann”.)