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05.04.1932, Noether an Hasse



Inhalt:

Die  Artin-Briefe. Vergleich  mit  Noethers Hauptgeschlechtssatz. Vereinfachung der Index-Rechnungen nach Chevalley und Herbrand.


Breslau1), Hobrechtufer 15 (bis 17.4.) 5. 4. 32

Lieber Herr Hasse!

Hier mit bestem Dank die Artin-Briefe zurück; etwas verspätet wegen Reise und weil ich mir die Hauptsachen herausschreiben wollte, was nicht mechanisch ging sondern doch mit Überlegungen verknüpft war.2) Ganz sehe ich ja noch nicht durch; vor allem scheint mir die Sache mit den Verzweigungsstellen doch über das Zyklische hinauszugehen (vergl. S.3. unten, letzter Brief). Es ist wohl so, daß die Komposition der “Idealalgebren” 3) H (erster Brief, letzte Seite) nicht in die Brauersche Algebrengruppe an der Stelle p übergeht, sondern daß beim Übergang vom Hauptideal zu Elementen (an der Verzweigungsstelle p) die Einheiten wesentlich hineinspielen, sodaß statt der zyklischen Algebrengruppe die abelsche Faktorkommutatorgruppe auftritt; vielleicht wird die direkte Definition des verallgemeinerten Normenrestsymbols (as,t,K-)
p alles genau zeigen.4) Auch diese Definition scheint mir an den Verzweigungsstellen die abelsche Gruppe zu berücksichtigen; oder haben Sie es anders überlegt? Hier werden Sie ja gerade anschließen wollen!

Ich halte es übrigens auch nicht für ausgeschlossen, daß die Artinschen Ansätze im Zyklischen ein stärkeres Zurückdrängen des Analytischen ermöglichen; aber auch das ist Zukunftsmusik! 5) Deuring fiel die Tatsache auf, daß überall die Differenzen h(z) auftreten (S. 2); das kommt daher, daß die as eine verschränkte Darstellung der Gruppen bilden, daß also a1 ~ 1. Normiert man a1 = 1, so werden die ms1 gleich Null, was bequem ist. Ob es sich hier nur um eine Trivialität handelt, oder um einen formalen Kern des Reziprozitätsgesetzes - daran dachte Deuring - kann ich noch nicht übersehen. Die verschränkte Darstellung durch die as ist übrigens die durch die Gruppe H - die Idealalgebra - erzeugte “Verlagerung” der s! 6) Nun interessiert es mich was Sie aus den Sachen herauslesen.

Daß die Index-Rechnungen immer übersichtlicher werden, ist sehr schön! 7)

Die Korrektur der amerikanischen Arbeit habe ich einem meiner Leute, ich glaube Wichmann, geliehen. Schwarz ist noch dafür interessiert; ich schicke sie Ihnen gelegentlich zum Ausbessern zu. Deuring sagte ich daß er seine Korrektur zurückschicken soll; hoffentlich vergißt er es nicht! 8)

Ich sehe auch noch nicht, ob mein Hauptgeschlechtssatz stärker nichtkommutativ ist als Artin; bezweifle es aber.9)

Ich glaube das Neue, was hinzukommen muß, ist Operatorisomorphie statt Gruppenisomorphie!

Herzliche Grüße, Ihre Emmy Noether.
          

Anmerkungen zum Dokument vom 5.4.1932

1Wahrscheinlich besuchte Emmy Noether ihren Bruder Fritz, der damals Professor für Mathematik an der Technischen Hochschule in Breslau war.

2Hasse hatte im März 1932 einen Briefwechsel mit Artin über Faktorensysteme; es ging um die Frage, ob man über die Faktorensysteme einen Zugang zu einer Klassenkörpertheorie für galoissche, nicht notwendig abelsche Körpererweiterungen erhalten kann. Im Hasse-Nachlass gibt es 4 Briefe von Artin an Hasse aus dieser Zeit. Es werden wohl diese Briefe gewesen sein, die Hasse an Emmy Noether geschickt hatte, und die sie nun zurückschickt. Im ganzen scheint die Bilanz, gemessen an den Erwartungen, negativ gewesen zu sein, auch Artin hatte schliesslich festgestellt, dass man eine ganz neue Idee braucht, um die Zerlegung von Primidealen im galoisschen Erweiterungskörper beschreiben zu können. Mit Faktorensystemen, so schreibt Artin, “kommt einfach die alte Methode heraus, die Klassenkörpertheorie anzuwenden auf Unterkörper in bezug auf die der ganze Körper cyklisch ist.

3“Idealalgebren” sind Klassen äquivalenter Faktorensysteme in der Gruppe der Ideale. Alles was mit Faktorensystemen definiert ist, wird von Noether mangels einer anderen Terminologie als “Algebra” bezeichnet. Heute würden wir von 2-Kohomologieklassen der Gruppe der Ideale, aufgefasst als Modul über der Galoisgruppe, sprechen. - Im lokalen Fall, wo die Ideale eine unendliche zyklische Gruppe bilden auf der die Zerlegungsgruppe Z trivial wirkt, ist die Gruppe der “Idealalgebren” nichts anderes als die Kohomologiegruppe H2(Z, Z) und diese ist isomorph zur Charaktergruppe der Faktorkommutatorgruppe von Z, was heute wohlbekannt ist, aber damals von Artin explizit ausgerechnet werden musste. Im unverzweigten Falle ist Z zyklisch und daher auch die Charaktergruppe, und diese wiederum ist isomorph zur Brauergruppe. Im verzweigten Falle treten jedoch andere Verhältnisse auf; hierauf spielt Noether an.

4Artin hatte eine Definition dieses “verallgemeinerten Normenrestsymbols” vorgeschlagen, dies jedoch noch nicht ausgeführt. Allerdings bemerkt er, dass im wesentlichen die von Hasse bereits definierten Invarianten einer Algebra dabei herauskommen.

5Für Hasse war das “Zurückdrängen des Analytischen” in der Klassenkörpertheorie kein Thema. Er strebte Methoden an, die es erlauben, die Beweise durchsichtig und der Sache angemessen zu führen; dazu gehörten für ihn durchaus auch Methoden der analytischen Zahlentheorie, wenn sie denn diese seine Kriterien erfüllen.

6Noether kommentiert hier eine Rechnung Artins, die wir heute als Anwendung des “Lemmas von Shapiro” in der Kohomologie bezeichnen würden.

7Es handelt sich um die Index-Rechnungen zum Beweis der zweiten fundamentalen Ungleichung der (globalen) Klassenkörpertheorie. Hasse hatte in seiner Widmungsarbeit Has:1933 für Noether erwähnt, dass es “neue Vereinfachungen von Chevalley und Herbrand” gebe, und er verweist dazu auf die Pariser Thèse 1932 von Chevalley, die zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht publiziert, aber unter den Fachleuten schon bekannt war und ausführlich diskutiert wurde. Z. Bsp. Artin hatte an Hasse in einem Brief vom 16. Juni 1931 geschrieben: Begeistert bin ich über die neuen ungeheuren Vereinfachungen der Klassenkörpertheorie, die von Herbrand und Chevalley stammen”. Die Chevalleysche Thèse Che:1933a erschien später in dem Journal of the Faculty of Science Tokyo, gleichzeitig mit einer darauf Bezug nehmenden Arbeit Has:1934 von Hasse selbst.

Es ist anzunehmen, dass Noether ihre Bemerkung über die Index-Rechnungen als Antwort auf eine entsprechende Information von Hasse geschrieben hat. Hierzu ist zu bemerken, dass zum Zeitpunkt dieses Briefes das Sommersemester 1932 gerade begonnen hatte; das war dasjenige Semester, in dem Hasse seine Vorlesung über Klassenkörpertheorie hielt, die ausgearbeitet wurde und dann als “Marburger Vorlesungen” Has:1933a weithin bekannt wurden (1967 in Buchform erschienen). Hasse hatte diese Vorlesung auf dem damals neuesten Stand konzipiert und u. a. auch die in Rede stehenden Index-Rechnungen berücksichtigt und weiter vereinfacht. Es ist wahrscheinlich, dass Hasse in seinen Briefen an Emmy Noether über seinen Plan der Vorlesung berichtet und dabei erwähnt hatte, dass die Index-Rechnungen jetzt übersichtlicher geworden waren. Und dass die Bemerkung im vorliegenden Brief die Antwort Noethers darauf ist.

8Hier handelt es sich wohl nicht um die große amerikanische Arbeit Hasses über zyklische Algebren Has:1932 , denn für diese hatte Hasse die Korrekturfahnen niemals erhalten. Deshalb sah sich Hasse gezwungen, eine zusätzliche Note Has:1932c mit den fälligen Korrekturen zu publizieren; diese Note erschien im selben Band der Transactions of the AMS, wie die Arbeit Has:1932 selbst. Es erscheint wahrscheinlich, dass es sich im vorliegenden Zusammenhang um diese Note handelt.

9Noether war eingeladen worden, auf der Internationalen Mathematiker-Konferenz, die im September 1932 in Zürich stattfinden sollte, einen der Hauptvorträge zu halten. Sie hatte vor, über ihre “hyperkomplexe” (d.h. kohomologische) Verallgemeinerung des Hauptgeschlechtssatzes zu sprechen. Es scheint so, dass sie sich jetzt schon auf diesen Vortrag vorbereitet, und dass dies der Grund ist, weshalb der Hauptgeschlechtssatz in den Briefen dieser Zeit öfter auftritt. Der Satz ist publiziert in Noe:1933a . Wenn Noether fragt, ob dieser Satz “stärker nichtkommutativ” ist als das Ergebnis der Artinschen Rechnungen (die niemals publiziert wurden) so meint sie wahrscheinlich, ob er eine stärkere Aussage liefert über das Zerlegungsverhalten von Primidealen in galoisschen nicht-abelschen Erweiterungen. Aus heutiger Sicht sind wohl beide, sowohl der Noethersche Hauptgeschlechtssatz als auch das Ergebnis der Artinschen Rechnungen, im wesentlichen gleichbedeutend mit dem Hasseschen Lokal-Global-Prinzip für Algebren. Vgl. die in Fußnote 2 zitierte Bilanz von Artin.