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22.11.1931, Noether an Hasse



Inhalt:

Zur lokalen und globalen Klassenkörpertheorie. Nochmal Albert.


Göttingen, 22. 11. 31

Lieber Herr Hasse!

Ich muß Ihnen wieder einmal auf verschiedene Briefe antworten; Ihre Resultate kommen bald schneller als unser Aufnahmevermögen. Die Briefe liegen übrigens schon bei Deuring (der von Leipzig aus ein paar Tage hier ist, sein Vater ist gestorben) um in den Bericht zu kommen.1) Deuring bittet auch um eine Korrektur der amerikanischen Arbeit für den Bericht. Es eilt nicht. (Sie haben doch nichts dagegen?) Ob wohl der Existenzsatz als Abschluß in einem halben Jahr auch vorhanden ist? 2) Einerlei; die Bresche ist da!

In meiner Ausarbeitung steht am Schluß - ich zitiere nach dem Gedächtnis - (auf den Blättern die Sie hatten, noch nicht): Die Tatsachen

  1. (Hasse) daß die Gruppe A der Algebren über einem p-adischen Grundkörper kp, deren Index ein Teiler von n, genau die zyklische n-ter Ordnung;
  2. daß die Untergruppe AZ < A der Algebren, die Z zum Zerfällungskörper besitzen, wo Z/kp zyklisch n-ten Grades, schon das ganze A ausschöpfen,

können als der wesentlichste Inhalt der Klassenkörpertheorie im Kleinen bezeichnet werden. (Es müßte heißen: des Umkehrsatzes der Kl[assenkörper] Th[eorie] i[m] Kl[einen].)3)

Sie sehen also, “im Kleinen” hatte ich Ihre Auffassung; den Schritt ins Große hatte ich nicht gemacht.4) Auf derselben Auffassung - ein Jahr früher als ich sie noch nicht so scharf hatte - beruht der Deuringsche Normenvertauschungssatz: das Invariante ist die Gruppe der Algebren.5) Aber den Schritt ins Große hat er ebenfalls nicht gemacht.

Ich hatte mir, früher schon und dieser Tage genauer, die Möglichkeit eines andern Übergangs ins Große überlegt; nämlich die Erweiterung der Galoisschen Gruppe G von K/k mit der Gruppe J der absoluten Idealklassen von K (nicht k); also das rein multiplikative verschränkte Produkt  J×× G6) - und zwar aus folgendem Grund: Man kommt so, nach eventuell noch stärkerer Erweiterung, zu den Schurschen Darstellungsgruppen und ihrer Verknüpfung; d.h. zu der “Gruppe der Darstellungsgruppen”, die jetzt in Analogie mit der Gruppe der Algebren im p-adischen Fall wieder endlich wird. Einer “Ähnlichkeitsklasse von Algebren” entspricht dabei eine Darstellungsgruppe (--> zugeordnete Divisionsalgebra) und ihre Erweiterungen (--> Matrizenringe darüber).

Nun ist für die Klassenkörpertheorie im Kleinen die oben angeführte Tatsache 1) nichts weiter, als Satz 8, Teil I Ihres Berichts (hm < n) 7); wegen der expliziten Aufstellung der Gruppe A werden analytische Hilfsmittel entbehrlich. Und meine Vermutung geht dahin - ob es stimmt weiß ich natürlich nicht - daß die Schurschen Untersuchungen ein ähnliches Hilfsmittel im Großen an die Hand geben könnten. Natürlich wird nebenbei noch irgendwie Ihre Gruppe K der Algebren zu K hineinspielen: die Tatsache daß es sich um Idealklassen von K, und nicht um abstrakte Gruppenelemente handelt, muß doch ausgenutzt werden.8)

Von hier aus müßte auch der Hauptidealsatz verständlich werden; ist K/k der absolute Klassenkörper, so ist J×× G ja einfach die zum zweiten Klassenkörper gehörige metabelsche Gruppe, bei passender Wahl des Faktorensystems in J×× G.

Die obige Tatsache 2) - die fundamentale Ungleichungsfolge von der andern Seite her - müßte sich wohl auch konstruktiv mit hyperkomplexer Einbettung behandeln lassen: hier würden dann die Galoismoduln hineinspielen. Aber einstweilen ist alles Phantasie!

Nächste Woche kommt Ihre Gruppe der p-adischen Schiefkörper9) im Seminar, und anschließend dann eine Skizze des “Forschungsberichts”. Diese Woche konnte er nur angekündigt werden; ich bekam ihn gerade vor Seminaranfang in die Hände.10)

Gut daß Sie die Sache mit Albert in Ordnung gebracht haben: da die Hefte noch ungebunden waren, dachte ich nicht daran die übrigen einzusehen, als ich die Arbeit zu haben glaubte. Er scheint mir also wirklich etwas zu können! 11) Mit der Fußnote bin ich ganz einverstanden.12) - Daß übrigens alle Leute den Beweis finden, kommt einfach daher, daß Sie ihn gefunden haben.13) Denn das noch Fehlende war trivial für jeden, der nicht wie Sie in die Sache verbohrt war.14)

Herzliche Grüße, Ihre Emmy Noether.
               

Anmerkungen zum Dokument vom 22.11.1931

1Es handelt sich um den Ergebnisbericht über Algebren, von dem schon in früheren Briefen Noethers die Rede war. Laut Verlagsvertrag sollte das Buch im Frühjahr 1932 fertig sein; daher schien es eilig, damit Deuring die neuen Ergebnisse noch berücksichtigen konnte. Die Fertigstellung verzögerte sich jedoch; das Buch erschien erst 1935.

2Es handelt sich um den Existenzsatz für zyklische Körper vorgegebenen Grades, dessen lokale Grade an endlich vielen Stellen vorgegeben sind. Dieser Existenzsatz wird in der gemeinsamen Arbeit BraHasNoe:1932 von Hasse mit Noether und Brauer zwar benutzt, dort aber nicht bewiesen. Der Satz wurde in verschärfter Form 1933 von Grunwald Gru:1933 bewiesen, indem nicht nur die lokalen Grade, sondern sogar die zyklischen lokalen Körpererweiterungen dieser Grade vorgegeben sein dürfen. Diese Verschärfung erwies sich jedoch nicht als korrekt, weil Wang 1948 ein Gegenbeispiel fand Wan:1948 . Eine genauere Diskussion des Sachverhalts findet sich in Roq:2004a . Vgl. Anmerkung 7 zum Brief * vom 2. 6. 31.

3Der “Umkehrsatz im Kleinen” besagt: Jede abelsche Erweiterung von kp ist Klassenkörper in dem Sinne, dass die Normgruppe denselben Index in kp× besitzt wie der Grad des Körpers über kp. - Bei der “Ausarbeitung”, von der Noether spricht, handelt es sich um die Ausarbeitung ihrer Vorlesung vom Wintersemester 1929/30 mit dem Titel: “Algebra der hyperkomplexen Größen”. Die Ausarbeitung wurde von Deuring angefertigt, jedoch erst posthum publiziert, nämlich in den Gesammelten Abhandlungen von Emmy Noether Noe:1983 . Dort finden wir am Schluss in der Tat den in diesem Brief von Noether zitierten Text. Hasse hatte ein Exemplar dieser Ausarbeitung erhalten, die er dann benutzte, um in seiner amerikanischen Arbeit Has:1932 die Theorie der Faktorensysteme und verschränkten Produkte darzustellen (mit Noethers Erlaubnis). Wie wir in diesem Brief erfahren, befand sich der zitierte Text noch nicht auf den Blättern, die Hasse zur Verfügung standen.

Emmy Noether betrachtet jedoch hier (und in ihrer Ausarbeitung) nur zyklische und nicht beliebige abelsche Erweiterungen; offenbar hält sie das für den wesentlichen Teil der Klassenkörpertheorie. Die Übertragung vom Zyklischen zum Abelschen ist jedoch nicht trivial, jedenfalls war sie es damals nicht unter Berücksichtigung des damaligen Kenntnisstandes über Galois-Kohomologie. Diese Übertragung wurde zuerst von Chevalley Che:1933 ausgeführt. Noether gibt in ihrem Züricher Vortrag Noe:1932 zu, dass dazu “noch neue algebraische Sätze über Faktorensysteme zu entwickeln waren”, und sie verweist auf die obige Arbeit von Chevalley.

Zu dem Thema “Algebrentheorie und Klassenkörpertheorie” vgl. auch den Brief * vom 25. 6. 1930, insbesondere Anmerkung 11. Dort hatte Noether im Anschluss an Hasses Arbeit Has:1931 bereits das hier vorliegende Problem angesprochen, allerdings noch ohne dass die in dem vorliegenden Brief formulierten Aussagen 1. und 2. als richtig erkannt waren. Nun aber, in dem hier diskutierten Manuskript zur gemeinsamen Arbeit BraHasNoe:1932 , hat Hasse diese Aussagen bewiesen, aufbauend eben auf seiner o. .g. Arbeit Has:1931 . Das ist der Grund, weshalb Noether jetzt nochmals auf dieses Thema zu sprechen kommt.

4“Im Kleinen” bedeutet bei Noether “lokal”. Im vorliegenden Falle handelt es sich um den Satz, dass im Lokalen eine Körpererweiterung genau dann Zerfällungskörper einer gegebenen einfachen zentralen Algebra ist, wenn der Körpergrad ein Vielfaches des Schurschen Index der Algebra ist. Der Schritt “ins Große” bedeutet, dass mit Hilfe des Lokal-Global Prinzips die Eigenschaft, Zerfällungskörper zu sein, auf den lokalen Fall zurückgeführt wird.

5Noether bezieht sich auf die Arbeit von Deuring in den Göttinger Nachrichten Deu:1931 . Dort wurde ein algebrentheoretischer Beweis des Vertauschungssatzes für das Hilbertsche Normsymbol gegeben,

6Wie bereits früher gesagt, benutzt Noether das Zeichen ×× zur Bezeichnung für ein verschränktes Produkt.

7Es handelt sich um die sogenannte erste Ungleichung der Klassenkörpertheorie; die Bezeichnungen waren damals Standard und daher brauchte sie Emmy Noether nicht zu erklären. n ist der Grad des in Rede stehenden Galoisschen Körpers, und hm der Index der ihm durch die Klassenkörpertheorie zugeordneten Gruppe (hier: die Gruppe der Normen). Zur Herleitung dieser Ungleichung “im Großen” waren damals analytische Überlegungen über die Zetafunktionen und L-Reihen erforderlich.

8Diese Ausführungen, so vage sie sind, scheinen anzudeuten, dass sich Noether auf dem Wege zur Galois-Kohomologie und zur kohomologischen Auffassung der Klassenkörpertheorie befindet.

9Das ist die Brauersche Gruppe eines p-adischen Körpers. Hasse hat bewiesen, dass sie isomorph zu Q/Z ist, vermöge der Hasseschen lokalen Algebra-Invarianten. Dieser Satz ist eine unmittelbare Folge aus den Resultaten der amerikanischen Arbeit Has:1932 von Hasse, ist jedoch dort noch nicht ausdrücklich formuliert. Er findet sich aber in der nächsten Arbeit Has:1933 von Hasse. Es mag sein, dass Hasse zu dieser Zeit bereits an dem Manuskript zu Has:1933 arbeitete, und dass er Noether über die wichtigsten neuen Resultate daraus informiert hat. Das würde den ersten Satz des vorliegenden Briefes erklären, in dem Noether schreibt: “Ihre Resultate kommen bald schneller als unser Auffassungsvermögen ...

10Uns ist unbekannt, welchen “Forschungsbericht” Noether meint. Möglicherweise handelt es sich um eine Skizze für das Deuringsche Buch über Algebren: Deu:1935b .

11Es geht um eine Fußnote in der gemeinsamen Arbeit BraHasNoe:1932 . Diese Fußnote würdigt die Beiträge Alberts zu dem Beweis des Lokal-Global-Prinzips für Algebren. In den beiden vorangegangenen Briefen hatte Noether dafür plädiert, den Hinweis auf Albert in der von Hasse eingesetzten Fußnote abzuschwächen. Nunmehr hat sie sich offenbar durch die nachdrücklichen Vorhaltungen Hasses davon überzeugt, dass Albert mehr gemacht hatte, als sie zunächst angenommen hatte; Noether hatte nämlich eine Arbeit von Albert übersehen. Es handelt sich um die Arbeit “On direct products” in den Transactions AMS Alb:1931a . Diese Arbeit war erst kürzlich erschienen, und wie Noether selbst schreibt, hat sie sie bei der Durchsicht der Neueingänge einfach übersehen.

Es ist interessant, durch diese Briefstelle zu erfahren, dass Hasse darauf bestanden hatte, den Hinweis auf Albert trotz des Einspruchs von Noether in der ursprünglichen Weise zu erhalten. Hasse hatte im Januar 1931 einen brieflichen Gedankenaustausch mit Albert begonnen, in dem sich die beiden Briefpartner gegenseitig über ihre neuesten Resultate informierten. Albert, damals 25 Jahre alt, war einer der aktiven Mathematiker der jüngeren Generation in Amerika, der sich mit Algebren beschäftigte. Hasse war daran gelegen, dass die in dem Kreis um Emmy Noether entwickelten Methoden zur Untersuchung der Algebren und ihrer Zahlentheorie auch in Amerika bekannt wurden; das scheint einer seiner Hauptgründe gewesen zu sein, die Korrespondenz mit Albert zu beginnen. Wie mit allen seinen Korrespondenten, tauschte Hasse freimütig die neuesten Ergebnisse, sobald sie ihm bekannt wurden, mit Albert aus. Vgl. dazu auch Roq:2004a .

Bemerkung: In FeSch:2005 heißt es: “Emmy Noether seems to have served as the principal proponent of the footnote giving credit to Albert’s work.” Der vorliegende Brief im Verein mit den vorangegangenen beiden Briefen Noethers zeigt jedoch, dass es nicht so war. Denn Noether war zunächst gegen die von Hasse vorgeschlagene Formulierung, wie wir den Briefen entnehmen können, und sie hat sich erst durch nachdrückliche Vorhaltungen Hasses überzeugen lassen. Wenn man also überhaupt von einem “principal proponent” für die Albert-Fußnote sprechen will, so ist dies eindeutig Hasse gewesen.

12Hasse hat die in Rede stehende Fußnote dann nochmal durch einen “Zusatz bei der Korrektur” ergänzt. Inzwischen hatte er nämlich Nachricht von Albert erhalten, aus der hervorging, dass sich Albert seit einiger Zeit aufgrund der verschiedenen Mitteilungen von Hasse unabhängig die Voraussetzungen erarbeitet hatte, die den “Reduktionen 2 und 3” der Arbeit Brauer-Hasse-Noether BraHasNoe:1932 zugrundeliegen. Zwar waren diese Resultate inzwischen durch den neuen Beweis in BraHasNoe:1932 überholt (zumindest als Hilfsmittel zum Beweis des Lokal-Global Prinzips), jedoch, so schreibt Hasse in dem Zusatz, kommt auch A.A.Albert ein unabhängiger Anteil am Beweis des Hauptsatzes” zu. Darüberhinaus hat Hasse gemeinsam mit Albert eine Arbeit publiziert, in der die jeweiligen Beiträge von Albert einerseits, und von Brauer-Hasse-Noether andererseits in zeitlicher Reihefolge dargestellt werden AlbHas:1932 .

13Zunächst hatte Hasse nur ein Teilresultat gefunden, nämlich das Lokal-Global-Prinzip für jede abelsch darstellbare Algebra. Das geht aus Noethers Postkarte Nr. 33 vom 27. 10. 1931 und dem folgenden Brief Nr. 34 hervor. Inzwischen hatte jedoch Hasse mit seiner ziemlich umständlichen Methode auch den Fall einer beliebigen einfachen zentralen Algebra erledigen können. Zwar kennen wir diesen Beweis nicht, wir wissen jedoch dass er existierte, aus einem Brief von Hasse an Richard Brauer vom 16. 11. 1931. Dort schreibt Hasse, dass er sich zunächst in “geradezu labyrinthischer Weise gequält” habe, aber doch bei Eintreffen der Noetherschen Karte (es handelt sich um die Postkarte Nr. 33) im wesentlichen durchgekommen war. Offenbar hatte er das auch an Noether geschrieben, sodass sie hier sagen kann, dass Hasse den Beweis gefunden habe.

14So würden wir das auch heute sehen. Es ist bemerkenswert, dass es fast ein Jahr gedauert hatte, bis diese wirklich triviale Schlussweise gefunden wurde. Diese findet sich dann noch einmal explizit in Noethers Brief vom 27. 1. 1932.