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22.03.1933, Noether an Hasse, Postkarte



Inhalt:

Noethers Reise nach Westerland. Korrektur von Hasses Klassenkörpermanuskript. Kommentar zu N.s Vortrag in Marburg. Deuring: Zetafunktionen quadratischer Formen. Verlagerung beim Hauptidealproblem.


22. 3. 33

Lieber Herr Hasse!

Da ich am Sonntag für ein paar Wochen verreise (Westerland - Sylt, Villa Richard), wollte ich bitten die Vorlesungsausarbeitung (ebenso für Tsen) erst zu Semesteranfang zu schicken.1)

Sie hatten übrigens wirklich in beiden Fassungen Ihres Klassenkörpermanuskripts die falsche Formel:  prod p|fpa = a0 (Hauptideal); daher mein Nichtverstehen! Ich habe das f gestrichen, auch den Text etwas geändert; Sie können ja, was Sie wollen, bei der Korrektur wieder streichen! 2)

In Marburg habe ich aber offenbar mehr behauptet als ich beweisen kann; die Zuordnungen sind nicht so glatt und eindeutig, wie etwa die Darstellung der Ikosaedergruppe glauben machte.3) Im Augenblick geht’s nicht weiter.

Deuring hat für das Herbrandheft in Fortsetzung seiner analytischen Untersuchungen den folgenden Satz gegeben: “Es gibt eine positive Zahl a, sodaß die Funktion Zd(s) =  sum (n2 + bnm + fm2)-s, wo die Form die Diskriminante -4d = b2 - 4f hat, im Bereich 0 < t < da nur Nullstellen vom Realteil 12 hat.” Das scheint doch wieder eine sehr schöne Sache zu sein! Er will demnächst in New York bei der Versammlung der Amer. Math. Soc. darüber vortragen.4)

Ich habe mir die folgende Deutung der “Verlagerung” beim Hauptidealsatz überlegt. Bildet man das verschränkte Produkt von Idealkl[assen]gruppe (Kommutatorgr[uppe]) mit zugehöriger abelscher (galoisscher) Gruppe, und dann eine solche Potenz, daß die Faktorensysteme zu S2, ..., Sn gleich eins werden, so wird das zu S1 die Verlagerung zu S1. Nach dem Satz von Chevalley und Ihrem. Das müßte eine Reduktion aufs Zyklische bedeuten! 5)

Beste Grüße, Ihre E.N.
      

Anmerkungen zum Dokument vom 22.3.1933

1Beachte das Datum des Briefes. Seit zwei Monaten gab es in Deutschland eine nationalsozialistische Regierung. Es gab antisemitische Ausschreitungen in Göttingen. Die Universität war im Zuge der “Gleichschaltung” zunächst geschlossen worden; der Semesteranfang wurde auf den Mai 1933 verschoben. Daraus erklärt sich, dass Noether noch Ende März “für ein paar Wochen verreist”. - Bei der in Rede stehenden Vorlesungsausarbeitung handelt es sich um die Hasseschen “Marburger Vorlesungen” zur Klassenkörpertheorie Has:1933a aus dem Sommersemester 1932. Vgl. Fußnote 3 zum Brief * vom 25. 11. 1932. - Chiungtze C. Tsen war ein Doktorand von Emmy Noether. In seiner Doktorarbeit fand er den damals sehr beachteten “Satz von Tsen”, demzufolge jede Algebra über einem algebraischen Funktionenkörper einer Variablen zerfällt, wenn der Konstantenkörper algebraisch abgeschlossen ist.

2Vgl. den vorangegangenen Brief * vom 3. 3. 1933. Der Fehler erscheint in der gedruckten Fassung nicht mehr.

3Wir wissen nicht, worüber Noether in Marburg vorgetragen hatte. Da sie aber die Ikosaedergruppe erwähnt, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass es sich um das Thema “Klassenkörpertheorie für galoissche Erweiterungen” gehandelt hat. Wie aus früheren Briefen ersichtlich, beschäftigte sich Noether seit mehr als einem Jahr mit diesem Thema, angeregt durch Hasses Resultat, das in der gemeinsamen Arbeit von Brauer-Hasse-Noether BraHasNoe:1932 dazu erwähnt worden war.

4Die Arbeit von Deuring erschien 1935 im Crelleschen Journal Deu:1935a ; eine Voranzeige 1933 im Bulletin of the AMS.

5Der “Satz von Chevalley und Hasse”, der hier angesprochen wird, ist offenbar derjenige, den Noether im Brief * vom 3. 6. 1932 diskutiert hatte. Wie es scheint, bezieht sich Noether hier auf die folgende Situation:

Sei K ein Körper und L sein absoluter Klassenkörper, Galoisgruppe G. Ferner sei L1 der absolute Klassenkörper von L, Gruppe C. Dann ist die Galoisgruppe von L1|K eine Gruppenerweiterung von G mit C; so etwas nennt Noether ein “verschränktes Produkt” von G mit C. Und zwar ist C genau die Kommutatorgruppe. Andererseits ist C als G-Modul isomorph zur Idealklassengruppe von L; identifiziert man C mit dieser Idealklassengruppe so erhält man das, was Noether “das verschränkte Produkt der Idealklassengruppe [also C ] mit zugehöriger abelscher Gruppe [also G ]” nennt. Dazu gehört ein Faktorensystem aus H2(G,C), sagen wir g. Nun ist G ein direktes Produkt von zyklischen Gruppen, seien S1,S2,...Sr Erzeugende dieser zyklischen Faktoren; setze S = <S2,...Sr> und T = <S1>, also G = S × T. Bedeutet jetzt n die Ordnung von S so sagt Noether, dass nach dem in Rede stehenden Satz gn (eingeschränkt auf T) das Bild von g bei der Verlagerung von G nach T ist. Also “Reduktion” auf die zyklische Gruppe T.

Es ist nicht klar, was Noether mit dieser “Reduktion” bezweckt. Vielleicht einen einfacheren Beweis des Hauptidealsatzes der Klassenkörpertheorie? Oder sie möchte dies für das Kapitulationsproblem benutzen? Das wird nicht ausgeführt.