Artin erwähnt einen „letzten Brief“ Hasses und daraus eine Formel „merkwürdiger Bauart“, die schwer abzuleiten sei, so schwer, dass Artin sich „nicht daran gewagt“ hätte. Und er fügt hinzu, er staune darüber, dass Hasse mit seinen aufwendigen Rechnungen durchgekommen ist.
Es ist nicht klar, um welche Rechnungen es sich dabei gehandelt hatte. Eine erste Interpretation wäre die, dass es sich um die Rechnungen zur Herleitung der oben angegebenen Formel (38) gehandelt hat. In der Tat erscheint (38) auf den ersten Blick als eine Formel „merkwürdiger Bauart“. Andererseits ist (38) ja nur ein expliziter Ausdruck für die Formel (35), und Formeln dieser Bauart, die den -adischen Logarithmus enthalten, waren aus der Theorie der Reziprozitätsgesetze wohlbekannt. Hinzu kommt, dass Hasses Rechnung für von Artin ja bereits in dem ersten Absatz seines Briefes erwähnt wird; zwischendurch, im 2.Absatz, behandelt er ein ganz anderes Thema. Es ist nicht anzunehmen, dass Artin diese Dinge zweimal in seinem Brief kommentiert hat.
Wir neigen jetzt zu der folgenden Interpretation. Es handelt sich danach um einen Entwurf Hasses für seine Arbeit [Has29], in der er Formeln für den sogenannten Umkehrfaktor im Körper (n) der n-ten Einheitswurzeln herleitet, und zwar unter Zurückführung auf den bereits mit Artin erledigten zweiten Ergänzungssatz (siehe 17.1). Wir haben diesen Entwurf im Hasseschen Tagebuch gefunden, in zwei Einträgen vom 3. und 4.Oktober 1927, also etwa 3 Wochen vor der Antwort Artins, die ja am 27.10.1927 datiert ist. Wir nehmen demnach an, dass Hasse den Inhalt seiner Tagebuch-Eintragungen an Artin mitgeteilt hatte, und dass sich Artin in seiner Antwort darauf bezieht. Möglicherweise hatten Artin und Hasse am 13.September, also bei dem Besuch Artins in Halle, auch über das Problem des Umkehrfaktors diskutiert.
Schon im Brief Nr.10 vom 21.7.1927 hatte Artin nach Formeln für den Umkehrfaktor gefragt; wir haben dort bereits auf die in Rede stehende Tagebucheintragung von Hasse und auf die daraus entstandene Arbeit [Has29] hingewiesen. Siehe 10.4.
Wir verzichten hier, im Detail auf Hasses Arbeit einzugehen und verweisen auf die Originalarbeit [Has29], insbesondere auf die dortige Formel (13), die in der Tat eine „merkwürdige Bauart“ besitzt. Zu diesem Ergebnis gelangte Hasse durch eine eingehende, detaillierte Durchführung des Eisensteinschen „eigentümlichen“ Rekursionsverfahrens. Artin hatte dieses Verfahren in seinem Brief Nr.7 vom 10.9.1926 benutzt, war jedoch nur bis zum Exponenten n = 2 gelangt. Siehe 7.1. Wenn man nun die Hasseschen neuartigen und aufwendigen Rechnungen im einzelnen verfolgt, so erscheint es verständlich, wenn Artin jetzt sagt, dass er erstaunt sei, dass Hasse auf diesem Weg durchgekommen sei; er selbst (Artin) hätte das nicht gewagt.
Artin fügt hinzu, dass Hasse sicherlich schon weiter gekommen sei, und dass er auf Hasses nächsten Brief außerordentlich gespannt sei. Der nächste Brief Artins ist jedoch erst 10 Monate später datiert, und von dieser Arbeit Hasses ist weder darin noch später die Rede, außer einer kurzen Notiz im Brief Nr. 19 vom 4.11.1928, in dem Artin den Erhalt von Hasses Manuskript bestätigt und die baldige Publikation in den Hamburger Abhandlungen zusagt. Wir schließen daraus, dass Hasse doch nicht viel weiter gekommen war und sich nach Ablauf eines Jahres entschlossen hatte, die Sache so wie sie war zu publizieren.
Hasse hat sein Ergebnis aus dieser Arbeit nicht in Teil II seines Klassenkörperberichts aufgenommen, lediglich für den Fall n = 1, wo es zu einer glatten Endformel kommt. Zum allgemeinen Fall n > 1 sagt er dort, dass eine glatte Endformel bisher nicht existiere, dass man aber immerhin „auf diese Weise den Umkehrfaktor im n-ten Kreiskörper für jeden speziell vorgelegten Primzahlpotenzexponenten n beherrscht“.