10.2 Erweiterung des Jacobischen Symbols

Während Artin seine Arbeit zu seinem Reziprozitätsgesetz aufschrieb, war Hasse nicht untätig geblieben. Er war dabei, die Arbeit [Has27e] zu verfassen, welche die Folgerungen behandelt, die sich aus dem Artinschen Reziprozitätsgesetz für das Reziprozitätsgesetz der Potenzreste ergeben. Hasses Arbeit erschien, wie die Artinsche Arbeit, ebenfalls noch im Jahre 1927.54 In dem „Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik“ wurde diese Arbeit unmittelbar nach der Artinschen [Art27a] referiert, und es hieß:

Die Arbeit Hasses ist eine direkte Fortsetzung der vorstehend referierten Arbeit von Artin.

Aus dem Briefwechsel geht hervor, dass dies von den beiden Autoren so konzipiert war. In Punkt 4.) des vorliegenden Briefes sprechen sich Artin und Hasse ab, welche Ergebnisse in welche Arbeit aufgenommen werden. Artin fragt, ob er den Furtwänglerschen Beweis in seine Arbeit aufnehmen könne (was er dann auch tat).55 Und am Ende von Punkt 4.) schreibt er:

Alles andere könnte Ihren Publikationen vorbehalten bleiben. Ich glaube, kleine Wiederholungen würden nicht nur nichts schaden, sondern sogar sehr gut sein.

Mit „alles andere“ waren wohl zunächst die Sätze über das Jacobische Symbol ( )
 ab- gemeint, soweit sie über das allgemeine Reziprozitätsgesetz (2) (Seite 55) hinausgehen. Darüberhinaus aber auch die Diskussion des Hilbertschen Symbols (a,b)
 -p- und seiner Eigenschaften. In Punkt 2.) des Briefes sagt ja Artin ganz explizit, dass Hasse die Diskussion des Hilbertschen Symbols übernehmen möge, insbesondere den Beweis der Produktformel.

Demgemäß besteht die Hassesche Arbeit [Has27e] aus zwei Teilen: Im ersten Teil geht es um das Jacobische Symbol (a)
 b, genauer um die Hassesche Erweiterung dieses Symbols. Im zweiten Teil geht es um das Hilbertsche Symbol (   )
  ap,b-. Dieser zweite Teil wird in dem nächsten Abschnitt 10.3 diskutiert.

Wir weisen noch einmal darauf hin, dass es sich bei dem Jacobischen Symbol ( )
 ab- um das Potenzrestsymbol zu einem beliebig vorgegebenen Exponenten m handelt. Der Fall eines Primzahlexponenten m = l war bereits durch die Arbeiten von Furtwängler und Takagi erledigt worden. Für einen beliebigen Exponenten m handelte es sich jedoch um absolutes Neuland, das erst jetzt durch das Artinsche Reziprozitätsgesetz zugänglich geworden war.

In der Einleitung zu [Has27e] bezieht sich Hasse auf die Artinsche Arbeit, insbesondere auf die „( )
 a-
 b-Tatsache“ (siehe 8.2) und sagt:

Ich leite in dieser Arbeit aus dem Artinschen Gesetz …die folgenden beiden weiteren Gesetze her “,

und dann nennt er als erstes das klassische Reziprozitätsgesetz für das Jacobische Potenzrestsymbol, und als zweites die Produktformel für das Hilbertsche Symbol.56

Das klassische Gesetz für das Jacobische Symbol, so wie wir es schon auf Seite 55 formuliert hatten, lautet:

(   )   (  )
  a-  =   b-  .
  b       a
(19)

Hasse behandelt diese Formel also noch einmal, obwohl ja Artin in seinem Brief geschrieben hatte, dass er dies in seine (Artins) Arbeit aufnehmen wolle. Auf den ersten Blick handelt es sich also um eine Wiederholung im Sinne von Punkt 4.) des Artinschen Briefes, wo Artin ja gesagt hatte, dass kleine Wiederholungen nichts schaden würden und sogar sehr gut seien.

Bei näherem Zusehen stellt sich aber heraus, dass die Hassesche Formel (19) keineswegs nur eine „kleine Wiederholung“ ist, sondern sie ist hinsichtlich der Voraussetzungen allgemeiner als bei Artin. Während nämlich Artin die bislang in der Literatur üblichen Voraussetzungen macht, dass a und b zu m und zueinander prim sind und dass mindestens eine von ihnen „primär“ für m ist, so kann Hasse die Formel (19) unter allgemeineren Voraussetzungen beweisen: sie gilt

Dazu muss Hasse allerdings vorher die Definition des Potenzrestsymbols erweitern, um sicherzustellen, dass beide Seiten in (19) unter der angegebenen Voraussetzung wirklich definiert sind.

Die dabei zugrundeliegende Idee Hasses ist es, die Definition des Potenzrestsymbols ( )
 a-
 p nicht erst auf die Formel (17) (Seite 201) zu stützen, sondern sofort mit Hilfe der Frobenius-Substitution auf die Formel (18). Diese Definition ist immer dann sinnvoll, wenn p in k(m V~ -
  a) unverzweigt ist, also nicht im Führer von k(m V~  --
  a) aufgeht57 – unabhängig davon, ob p in m aufgeht oder nicht. Artin kommentiert das im Brief Nr.15: „Ich finde es richtig, dass Sie (  )
  a-
  p =     V~ --
sp(m V~ -a)
  m a definieren wollen.

Vermöge Multiplikativität im Nenner des Symbols wird dann ( )
 a-
 b definiert für alle Divisoren b von k, die teilerfremd sind zum Führer von k(m V~ a--) – unabhängig davon ob b teilerfremd ist zu m oder zu a.

Wenn sich die Divisoren b und b' um eine m-te Divisorpotenz unterscheiden, so ist ( )
 ab- = (  )
  ab'-. Diese Beobachtung führt zu einer nochmaligen Erweiterung des Definitionsbereiches von (  )
 ab-: Wenn es einen zum Führer von k( V~ --
m a) primen Divisor b' gibt, der sich von b nur um eine m-te Divisorpotenz unterscheidet, so wird (a-)
  b = (a-)
 b' wohldefiniert – unabhängig davon ob b zum Führer von k(m V~ a--) prim ist oder nicht.

Bei dieser Erweiterung des Definitionsbereiches des Jacobischen Symbols ist sichergestellt, dass beide Seiten von (19) definiert sind, wenn die Führer von k(m V~ a--) und k(  --
m V~  b) teilerfremd sind.

Bevor Hasse nun bei dieser Definitionserweiterung die Reziprozitätsformel (19) unter der Voraussetzung (20) beweisen kann, muss er die funktoriellen Eigenschaften des erweiterten Jacobischen Symbols herleiten. Dies geschieht in der Arbeit [Has27e] sehr sorgfältig. Die „( )
 ab--Tatsache“ ergibt sich auch für das erweiterte Symbol direkt aus dem Artinschen Reziprozitätsgesetz, und daraus vermöge des „Furtwänglerschen Tricks“ das Reziprozitätsgesetz (19) unter der angegebenen Voraussetzung (20). Artin schreibt dazu im Brief Nr.12:

Zunächst meinen besten Glückwunsch zu der schönen neuen Formulierung des R[eziprozitäts]g[esetzes]. Ich finde auch, dass sie die wahre und symmetrischste ist. In ihr stecken viele spezielle Fälle!

Hierbei bezieht sich „symmetrisch“ offenbar darauf, dass die Bedingung (20) symmetrisch in a und b ist – im Gegensatz zu dem klassischen Reziprozitätsgesetz (2), wo sich die Bedingung primär zu sein nur auf eine der beiden a, b bezieht. Und wenn Artin die Hassesche Formulierung als die „wahre“ bezeichnet, dann ist das wohl in demselben Sinne zu verstehen, in dem er zu Beginn des vorvorigen Briefes Nr.10 von seinem eigenen Reziprozitätsgesetz erklärt hatte, er glaube es sei die „wahre“ Formulierung. Damit meint er, dass sich die arithmetischen Gesetze mit Hilfe der Frobenius-Substitution in gruppentheoretischen Gesetzen spiegeln; auch Hasse hatte ja die Frobenius-Substitution in der Galoisgruppe zur Definition des erweiterten Potenzrestsymbols benutzt. Siehe 10.1.

Die „vielen speziellen Fälle“, die Artin erwähnt, sind vom Typus des zweiten Ergänzungssatzes, weil a oder b Primteiler des Exponenten m enthalten können. Zum Beispiel die Formel für ( )
 ca-, die Artin zwar in Punkt 4.) dieses Briefes ankündigt, dann aber aus Platzgründen doch nicht in seine Arbeit aufgenommen hat, wie er im nächsten Brief Nr.11 feststellt.

In der Bezeichnungsweise von Hasse und Artin bedeutet c ein Element aus k, dessen Hauptdivisor sich nur aus Primteilern von m zusammensetzt; das impliziert, dass sich auch der Führer von k( V~ --
m c) nur aus Primteilern von m zusammensetzt. Wenn nun a „primär“ ist58 , d.h. wenn m prim ist zum Führer von k( V~ --
m a), dann folgt (  )
 ca- = ( )
 ac- nach (19), (20). Wenn überdies a, wie Artin sagt, „hyperprimär“ ist, d.h. wenn die Primteiler l von m (also auch von c) in k(m V~ a--) voll zerfallen, dann sind die zugehörigen Frobenius-Substitutionen sl = 1 und es ergibt sich (a-)
  c = 1. Wir sehen also, dass die von Artin angekündigte Relation

(  )
 c-  = 1  wenn  a hyperprim är
 a
(21)

in der Tat ein Spezialfall der Hasseschen Erweiterung (19), (20) des Reziprozitätsgesetzes ist.

Vielleicht war auch das ein Grund, weshalb Artin diese Formel dann doch nicht in seine Arbeit aufgenommen hat? Dagegen spricht allerdings, dass Artin das Hassesche Ergebnis wahrscheinlich erst 8 Tage später erfuhr, denn er spricht ja erst im Brief Nr.12 vom 29.7.1927 davon und gratuliert Hasse dazu.

Übrigens: Im nächsten Brief Nr.11 erwähnt Artin neben (21) auch die Formel

(a )    (b )
  -- =   --
  b      m
(22)

die er auch nicht in seine Arbeit aufgenommen habe. Es hat den Anschein, dass Hasse ihm vorgeschlagen hatte, auch diese Formel und nicht nur (21) aufzunehmen. Wir haben lange gerätselt, was Hasse dabei wohl gemeint haben könnte. Ein Gesetz dieser Form findet sich nicht in den Arbeiten von Artin und Hasse, und auch nicht in dem Hasseschen Klassenkörperbericht II. Schließlich haben wir dieses Gesetz in §8 von Takagis Arbeit über Reziprozitätsgesetze [Tak22] gefunden; in den gesammelten Werken auf S.202 ganz oben. (Takagi schreibt m statt a und n statt b.) Hierbei bedeutet m den zu dem Exponenten m (der ja bei Takagi eine Primzahl m = l ist) teilerfremden Bestandteil des Hauptdivisors von a, und b ist eine zu a und m teilerfremde Zahl, die hyperprimär für m ist. Takagi benutzt (22) um daraus (21) zu beweisen.

Offenbar hatte Hasse vorgeschlagen, dass Artin nunmehr für beliebigen Exponenten m die Takagische Formel in seine Arbeit aufnimmt und daraus dann (21) herleitet. In der Tat kann (21) als ein Spezialfall von (22) angesehen werden. Andererseits ist wiederum (22) in Hasses erweiterter Reziprozitätsformel (19), (20) enthalten. Eine detaillierte Diskussion des Sachverhalts finden wir in Teil II des Hasseschen Klassenkörperberichts [Has30a], §12.

Die Arbeit [Has27e] enthält noch ein weiteres wichtiges Resultat über das Jacobische Symbol in der Hasseschen Erweiterung, nämlich die Charakterisierung von (a)
 l- durch Kongruenzbedingungen, allerdings nur im Falle von Primzahlexponent m = l. Hierüber werden wir in 14.2 berichten; siehe insbesondere die dortige Formel (28).

BEMERKUNG: Im Falle m = 2 kann der Führer von k( V~ a-) reelle Stellen von k enthalten. Eine reelle Stelle ist im Führer dann und nur dann enthalten, wenn a < 0 ist in der Anordnung von k, die zu dieser Stelle gehört. In dem Hasseschen Satz (19) besagt die Führer-Bedingung (20), dass für eine reelle Stelle nicht gleichzeitig a < 0 und b < 0 sind. Dies muss stets berücksichtigt werden, wenn man mit dem quadratischen Restsymbol arbeitet. Zur Verdeutlichung betrachten wir das folgende Beispiel, das wir einem Brief von Furtwängler an Hasse entnommen haben. Offenbar hatte Hasse ihn über sein erweitertes Reziprozitätsgesetz (19), (20) informiert, aber Furtwängler hatte übersehen, dass auch die reellen Stellen berücksichtigt werden müssen; daher arbeitete er mit der Diskriminante statt mit dem Führer. Furtwängler schrieb am 29.7.1927 an Hasse:

Was das Gesetz (a )
  b-m = (b )
  a-m wenn die R[elativ]D[iskriminanten] von k(m V~ a--) und k(m V~ b--) zueinander prim sind, betrifft, so ist es wohl in dieser Fassung für gerades m nicht allgemein richtig. Denn in Q ist: (-3)
 -52(-5)
 -32, obwohl 20 und 3 relativ prim sind.

In der Tat ist (   )
  -3-
  -52 = -1 und (   )
  -5-
  -32 = 1. Vielleicht hat dieses Missverständnis durch Furtwängler den Anlass dazu gegeben, dass Hasse in [Has27e] eine Fußnote eingefügt hat mit der ausdrücklichen Bemerkung, dass der Führer gemeint ist und nicht die Diskriminante.