4 Reziprozität für Potenzreste

Wir beabsichtigen hier nicht, auf die lange Geschichte der Reziprozitätsgesetze einzugehen; dazu sei auf die zahlreiche einschlägige Literatur verwiesen, z.Bsp. [Lem00] sowie [Fre94]. Unser Ziel ist es, die wichtigsten Resultate zu nennen, auf denen Artin und Hasse aufbauten, und zwar in der Terminologie, wie sie zu Beginn des 20.Jahrhunderts gebräuchlich war und auch von Artin in den Briefen benutzt wurde.

Heute kennen wir das Artinsche Reziprozitätsgesetz als eine Isomorphieaussage zwischen der Galoisgruppe einer abelschen Zahlkörpererweiterung K|k und der zugehörigen Strahlklassengruppe (oder Idelklassengruppe) in k. Dieser Isomorphiesatz wurde 1923 von Artin formuliert [Art23b] und 1927 bewiesen [Art27a]. Damals erschien dieser Satz, den Artin sofort als „allgemeines Reziprozitätsgesetz“ bezeichnete, vielen Mathematikern zunächst „etwas fremdartig“, wie Artin in seiner Arbeit selbst sagte. Vorher verstand man nämlich unter einem „Reziprozitätsgesetz“ eine Aussage über Potenzreste, und zwar in solchen Zahlkörpern, welche die einschlägigen Einheitswurzeln enthalten. Wir wollen das nun erläutern.

Es sei m > 1 eine vorgegebene natürliche Zahl und k ein algebraischer Zahlkörper, der die m-ten Einheitswurzeln enthält. Es sei p ein Primdivisor von k und |p| die Anzahl der Elemente seines Restklassenkörpers, also die Absolutnorm von p. Es wird vorausgesetzt, dass p nicht in m aufgeht. Ist a  (- k prim zu p, so ist das m-te Potenzrestsymbol ( )
 ap- definiert als diejenige eindeutig bestimmte m-te Einheitswurzel, welche der Kongruenz genügt:

(  )
  a-   =_  a|p|m-1 mod p .
  p
(1)

Wenn hervorgehoben werden soll, auf welchen Exponenten m sich das Symbol bezieht, dann schreibt man auch (a )
 p-m oder (a )
  p-(m).

Genau dann ist (a )
  p- = 1, wenn a ein m-ter Potenzrest modulo p ist, d.h. wenn die Kongruenz xm  =_ a mod p durch x  (- k lösbar ist. Wenn das der Fall ist, so gibt es genau m solche Lösungen modulo p.

Für Divisoren b von k, die zu a und zu m prim sind, wird (a)
 b erklärt vermöge Multiplikativität bezüglich des Nenners b. Wenn b = (b) ein Hauptdivisor ist, so schreibt man (  )
  ab-. Dies ist das Jacobische Symbol zum Exponenten m.

Als Allgemeines Reziprozitätsgesetz für das Jacobische Symbol zum Exponenten m wird meist die folgende Aussage bezeichnet:

(  )   (   )
  a-     b-
  b  =   a       wenn  a  prim är.
(2)

Vorausgesetzt wird natürlich, dass beide Symbole, auf der linken und auf der rechten Seite, auf die angegebene Weise definiert sind, d.h. a,b sollen zueinander und zu m prim sein. Ferner heißt a primär, wenn die Diskriminante von k(m V~  --
  a)|k prim ist zu m. Das bedeutet, dass jede in m aufgehende Primstelle unverzweigt ist in k( V~ -
ma). (Für m = 2 ist noch die Zusatzbedingung zu stellen, dass a total positiv ist in k, d.h. jede unendliche Stelle von k soll in k( V~ --
m a) unverzweigt sein.) Wenn der Exponent m hervorgehoben werden soll, so sagt man „a ist m-primär“. Wenn m = l eine Primzahl ist, dann lassen sich die primären a durch Kongruenzbedingungen nach Potenzen der in l aufgehenden Primstellen l von k charakterisieren. Für eine höhere Primzahlpotenz m = ln ist eine solche Charakterisierung schwieriger; in den Briefen Artin–Hasse kommt dieses Problem öfters zur Sprache.21

Gelegentlich wird auch der Begriff a hyperprimär benutzt; er bedeutet, dass jede in m aufgehende Primstelle voll zerlegt ist in k(m V~ -
  a).

Wenn k = Q und m = 2 ist, dann handelt es in (2) sich um das gewöhnliche quadratische Reziprozitätsgesetz; die Bedingung „a primär“ bedeutet in diesem Falle, dass a  =_ 1 mod 4 und a > 0 ist. Für einen beliebigen algebraischen Zahlkörper und m = 2 hatte Hilbert dieses Reziprozitätsgesetz in seinen Arbeiten behandelt. In seiner Pariser Ansprache 1900 hatte er dann das Problem gestellt, dies für einen beliebigen Exponenten m zu verallgemeinern. Vermöge der Primzerlegung von m kann das Problem auf den Fall einer Primzahlpotenz m = ln zurückgeführt werden. Das 9.Hilbertsche Problem lautete:22

Für einen beliebigen Zahlkörper soll das Reciprocitätsgesetz der l-ten Potenzreste bewiesen werden, wenn l eine ungerade Primzahl bedeutet und ferner, wenn l eine Potenz von 2 oder eine Potenz einer ungeraden Primzahl ist. Die Aufstellung des Gesetzes, wie die wesentlichen Hülfsmittel zum Beweise desselben werden sich, wie ich glaube, ergeben, wenn man die von mir entwickelte Theorie des Körpers der l-ten Einheitswurzeln und meine Theorie des relativ-quadratischen Körpers in gehöriger Weise verallgemeinert.

Für einen ungeraden Primzahlexponenten m = l wurde das Hilbertsche Problem in den Jahren bis 1913 durch Furtwängler erledigt. Takagi hat in seiner 1922 erschienenen Arbeit das Reziprozitätsgesetz in den Rahmen der Klassenkörpertheorie gestellt, so wie das Hilbert vorausgesehen hatte.23 Der Zusammenhang mit der Klassenkörpertheorie ergibt sich aus dem Bau der Formel (1). Der Wert von (a-)
  p bestimmt nämlich den Zerlegungstypus der Primstelle p in der abelschen Körpererweiterung k( V~ --
m a); wenn z.Bsp. ( )
 a-
 p = 1 so zerfällt p voll. Ganz allgemein war nun aber die Beschreibung des Zerlegungstypus von Primstellen in abelschen Erweiterungen das Hauptproblem, aus dem sich die Klassenkörpertheorie entwickelt hatte – unabhängig von Voraussetzungen über Einheitswurzeln im Grundkörper. (Vgl. [Fre89].)

Durch seinen klassenkörpertheoretischen Ansatz erhielt Takagi ebenfalls eine Lösung des Hilbertschen 9.Problems für Primzahlexponenten, aber auf anderem Weg als Furtwängler. Der Fall eines beliebigen Primzahlpotenz-Exponenten m = ln konnte jedoch erst durch Artin auf der Basis seines Reziprozitätsgesetzes erledigt werden, unter Verwendung von Ideen von Hasse und Furtwängler. Davon zeugen die späteren Briefe aus dem Jahr 1927.

In Verallgemeinerung des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes (2) entsteht die Frage nach der Berechnung des sogenannten Umkehrfaktors:

(  ) (   )-1
  a-   b-    = ?
  b    a
(3)

in denjenigen Fällen, in denen die obige Bedingung des Reziprozitätsgesetzes nicht erfüllt ist, in denen also weder a noch b primär ist. Zur Präzisierung dieser Aufgabe hat Hilbert das nach ihm benannte Hilbertsche Normsymbol (a,b)
 -p- eingeführt, das in gewissem Sinne schon bei Eisenstein (1850) vorkommt und im wesentlichen auf Gauss (1801) zurückgeht, wo es „Charakter“ genannt wird. Es besitzt die folgenden Eigenschaften:

Für jede Primstelle p von k ist (   )
  ap,b- eine bimultiplikative antisymmetrische Funktion in a und b mit Werten aus der Gruppe der m-ten Einheitswurzeln, und zwar derart, dass (a,b)
  p = 1 wenn und nur wenn a eine Norm aus der p-adischen Komplettierung kp( V~ --
m b) ist.24 Dabei dürfen a,b beliebige Elemente aus k (oder kp) sein. Die Definition des Normsymbols war keineswegs einfach, jedenfalls wenn p ein Teiler des Exponenten m ist, und sie benutzte insbesondere das allgemeine Reziprozitätsgesetz. Demgemäß konnte Hilbert selbst nur den quadratischen Fall m = 2 behandeln; der Fall eines ungeraden Primzahlexponenten m = l wurde erst durch Furtwängler und Takagi erledigt. Der Fall eines beliebigen Exponenten m konnte erst von Hasse aufgrund des Artinschen Reziprozitätsgesetzes behandelt werden.

Ohne hier auf die genaue Definition einzugehen, stellen wir lediglich fest, dass die Produktformel für das Hilbertsche Symbol gilt:

   (    )
 prod   a,-b  =  1.
 p    p
(4)

(Hierbei sind auch die reellen unendlichen Primstellen p zu berücksichtigen, falls es welche gibt; das kann nur für m = 2 eintreten). In dieser Produktformel hatte Hilbert alle Reziprozitätsbeziehungen für die m-ten Potenzreste in k zusammengefasst.

Wenn p kein Teiler von m ist, so lässt sich das Hilbertsche Symbol in einfacher Weise durch das Jacobische Symbol wie folgt ausdrücken:

(a, b)   (a  -bba)
 ----  =   ------
   p          p
(5)

wobei a = vp(a) und b = vp(b) die Ordnungszahlen von a,b bei der zu p gehörigen Exponentenbewertung vp von k bezeichnen. (Wenn m gerade und nicht durch 4 teilbar ist, dann ist auf der rechten Seite noch der Faktor (--1)
  pab hinzuzufügen.) Wenn a,b zueinander und zu m prim sind, wie es in (3) vorausgesetzt ist, dann ersieht man aus (5), dass  prod p/| m(   )
 a,b
  p = (  )
  a-
  b(  )
 b-
 a-1. Zufolge der Produktformel (4) lässt sich also der Umkehrfaktor wie folgt darstellen:25

(  ) (   )-1    prod  (     )-1
  a-   b-    =      a,b-    ,
  b    a       l|m    l
(6)

(wobei auf der rechten Seite auch die reellen Primstellen von k zu berücksichtigen sind, was nur für m = 2 relevant ist). Oft wird auch diese Formel für den Umkehrfaktor als „allgemeines Reziprozitätsgesetz“ bezeichnet; sie enthält (2) als Spezialfall.

Durch (6) ist zwar die Aufgabe (3) nicht gelöst, weil die (Hilbertsche) Definition der Normsymbole (   )
  a,bl- für lm formaler Natur ist und keinen expliziten Aufschluss über den Wert dieser Symbole liefert. Durch (6) wird aber die Aufgabe für den Umkehrfaktor zurückgeführt auf die Berechnung der Hilbertschen Normsymbole an denjenigen Primstellen l in k, die Teiler von m sind (und die unendlichen reellen Primstellen für m = 2). Das führt auf die sogenannten expliziten Reziprozitätsformeln.

Im Spezialfall k = Q und m = 2 sind diese expliziten Formeln nach dem quadratischen Reziprozitätsgesetz in der Form geläufig:

(  ) (   )-1
  a-   b-    = (- 1)a-21.b-21 (- 1)sgna2-1.sgnb2-1
  b    a

Auf der rechten Seite entspricht der erste Faktor der Primstelle 2, während der zweite Faktor zur reellen Stelle von Q gehört. (Dieser fällt weg, wenn a > 0 oder b > 0 ist.) In den Jahren 1923-25 hat Hasse versucht, explizite Reziprozitätsformeln mit möglichst großem Gültigkeitsbereich zu finden, und zwar zunächst im Falle eines Primzahlexponenten m = l. In späteren Jahren – nachdem Artin sein Reziprozitätsgesetz gefunden hatte – dann auch für Primzahlpotenz-Exponenten m = ln.

Wir weisen noch einmal darauf hin, dass die Produktformel (4) und auch (6) auf dem Reziprozitätsgesetz (2) beruhen und somit vor Artin nur im Falle eines Primzahlexponenten m = l gesichert waren. Erst auf der Grundlage des Artinschen Reziprozitätsgesetzes 1927 wurde es schließlich möglich, diese für einen beliebigen Exponenten m zu verifizieren. Demgemäß beziehen sich die ersten 5 Briefe aus dem Jahr 1923, als das Artinsche Reziprozitätsgesetz noch nicht bekannt war, ausschließlich auf den Fall eines Primzahlexponenten.

Neben dem allgemeinen Reziprozitätsgesetz (2) stehen die sogenannten Ergänzungssätze. Traditionsgemäß unterscheidet man zwischen dem „ersten“ und dem „zweiten“ Ergänzungssatz. Der erste Ergänzungssatz bezieht sich auf das Potenzrestsymbol für eine Einheit e des Körpers k und lautet:

(  )    prod  (    )-1
 e-  =     e,a-
 a     l|m    l

wenn a zu m prim ist. (Für m = 2 sind auf der rechten Seite auch die reellen Primstellen von k zu berücksichtigen.) In dieser Form ist der erste Ergänzungssatz ein Spezialfall von (6), weil nämlich definitionsgemäß (a)
 e = 1 ist. Demnach ist der erste Ergänzungssatz lediglich von historischem Interesse und spielt auch in dem Briefwechsel Artin–Hasse keine Rolle.

Der zweite Ergänzungssatz bezieht sich auf das Potenzrestsymbol für eine Zahl c  (- k, die sich nur aus Primteilern des Exponenten m zusammensetzt und lautet:

(  )     prod  (     )-1
  c- =      c-,a
  a     l|m    l
(7)

wenn a zu m prim ist.

Die ersten 5 Briefe beziehen sich auf den zweiten Ergänzungssatz und sein Verhältnis zu dem allgemeinen Reziprozitätsgesetz (2), und zwar wie bereits gesagt im Falle eines ungeraden Primzahlexponenten l. Der dabei wohl wichtigste Fall ist der, wenn k = Q(z) der Körper der l-ten Einheitswurzeln ist – unter z eine primitive l-te Einheitswurzel verstanden. In diesem Fall gibt es nur einen einzigen Primteiler l von k, der ein Teiler von l ist, und dieser besitzt 1 - z als Primelement. Also gibt es auf der rechten Seite der Formel (7) nur einen einzigen Faktor, und (7) braucht nur für das eine Element c = 1 - z ausgewertet zu werden.

Schließlich ist noch das sogenannte Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz zu erwähnen, das in dem Briefwechsel gelegentlich erwähnt wird. Es bezieht sich zunächst auf einen ungeraden Primzahlexponenten m = l und den Körper k = Q(z) der l-ten Einheitswurzeln. Es handelt sich um eine gewisse Vorstufe des Reziprozitätsgesetzes (2), nämlich unter der einschränkenden Annahme, dass a rational ist und b zu einer rationalen Zahl modulo l2 kongruent ist. (Dabei ist l der Primteiler von l in Q(z).) Hilbert bemerkt dazu in seinem Zahlbericht, dass das

Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz ein bisher unentbehrliches Hilfsmittel zum Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes“ 

ist. Takagi sagt dasselbe in seiner großen, dem Reziprozitätsgesetz gewidmeten Arbeit 1922. Bevor Artins Reziprozitätsgesetz etabliert war, hatte man versucht, das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz zu verallgemeinern auf beliebige Primzahlpotenzexponenten m = ln, weil man hoffte, auf diese Weise einen Zugang zu dem allgemeinen Reziprozitätsgesetz zu erhalten. Siehe dazu Teil II, Abschnitt 6.3. Durch den Artinschen Beweis des Reziprozitätsgesetzes verlor jedoch das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz seine Rolle als „unentbehrliches Hilfsmittel zum Beweis des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes“, d.h. es wurde für diesen Zweck entbehrlich.