11 26.07.1927, Brief von Artin an Hasse


Hamburg, 26.7.1927

Lieber Herr Hasse!

Vielen Dank für Ihren lieben Brief, der mich lebhaft interessiert hat. Ich habe nun die Arbeit schon aufgeschrieben und an die Druckerei weitergegeben. Nächste Woche erhalten Sie die Korrekturen.65 Am Schluss der Arbeit schrieb ich, dass Sie mir mitgeteilt hätten, die Hilbertsche Formulierung könnten Sie beweisen. Ich hoffe, dass Sie damit einverstanden sind; wenn nicht, so können in der Korrektur noch immer Änderungen vorgenommen werden. Ich würde auch gern noch in einem Zitat darauf hinweisen, wo Sie dieses Resultat publizieren werden. Steht das schon fest?66

Ferner sind Sie mir doch nicht böse, dass ich Ihrem Vorschlag (   )
  a-
  b = (   )
  b-
  m zu zeigen doch nicht gefolgt bin und weder ihn, noch (  )
 c-
 a = 1 gezeigt habe.67 Ursprünglich hatte ich nämlich die ganze Sache auf etwa 10 Seiten veranschlagt. Da nun das laufende Heft bereits dadurch zu gross geworden wäre, können Sie sich denken, dass ich sehr sparen musste als ich doch insgesamt 15 Seiten (geschrieben = etwa 12 Seiten Druck) dazu brauchte. Das kommt daher, weil ich alles in lesbarer, genügend breiter Form darstellen wollte. So habe ich mich denn schweren Herzens nur zu (  )
 a-
 b = (  )
 b-
 a entschlossen.

Darf ich nun noch einige Fragen an Sie richten:68 Bei ln-primär kommt man mit dem Modul (1 - z)l aus, wenn z eine primitive l-te Einh[eits]w[urzel] ist, also mit einem von n unabhängigen Modul. Bei ln-hyperprimär muss man aber stark klettern. Haben Sie die genaue Potenz von den li mit der man auslangt? Das kann nicht schwer sein (mit Hilfe der bekannten Resultate über Kummersche Körper), ich hab es mir aber noch nicht genau überlegt. Man muss da den Führer für k( V~ --
ln m) bestimmen wenn m durch l1 teilbar ist. Das gibt doch die grösste Potenz?

Als Kuriosität, die ja natürlich bekannt ist, möchte ich die Formeln für das biquadratische R[eziprozitäts]g[esetz] in R( V~ ---
  - 1) in expliziter Form angeben:69

(       )    (       )- 1       bd + a---1d + c---1b
  a+--2bi- ×   c-+-2di    = (- 1)      2        2    .
  c+ 2di      a + 2bi

2. Ergänzungssatz:

(       )     b(a - 3b)   a2- 1
  -1+--i-     ---2------ --8---
  a + 2bi  = i                 .
Dabei in a + 2bi, a lediglich ungerade. Der 2-te Ergänzungssatz geht nach dem bewussten Schimmel.

Nun etwas anderes, das mir grossen Spass bereitet hat und das ich gestern im Heckeseminar erzählte. Das Resultat scheint, so trivial der Beweis ist, neu zu sein.

Eine ganz kindische Vermutung jedes Anfängers ist doch diese: Ist k Unterkörper von K, so ist die Klassenzahl von k ein Teiler der Klassenzahl von K. Ich möchte zeigen, dass dies „fast“ immer richtig ist, mehr noch:70

Satz: Enthält K/k (wo K ein beliebiger, nicht notwendig galois’scher Oberkörper von k ist) keinen in bezug auf k Abelschen und gleichzeitig unverzweigten Zwischenkörper, so besitzt die Gruppe der absoluten Idealklassen von K eine Untergruppe (Gruppe der Klassen deren Relativnorm in k in die Hauptklasse fallen), deren Faktorgruppe isomorph ist mit der Gruppe der absoluten Idealklassen in k.

Beweis: Sei _O_ der Klassenkörper (absolute, volle) von k. Er hat mit K nach Annahme den Durchschnitt k. Für den bekannten Satz der galois’schen Theorie, dass die Fremdheit der Körper ausreicht um zu sichern, dass der komponierte Körper als Grad das Produkt der Grade hat reicht es nun aus, wenn einer der Körper relativ galois’sch ist. Das ist beinahe trivial. Nun ist der Klassenkörper sogar Abelsch. Also hat der komponierte Körper _O_K = _O_1 in bezug auf K gleichen Grad und gleiche Gruppe wie _O_ in bezug auf k. Da _O_ in bezug auf k unverzweigt ist, ist auch K_O_ in bezug auf K unverzweigt. Sie überlegen sich das leicht selbst (etwa „allgemeine“ Zahl aus _O_ ist spezielle Zahl in _O_1 deren Rel[ativ]d[iskriminante] in bezug auf K den Wert 1 hat). „Allgemeine“ Zahl = Basisform. Also ist _O_1 Klassenkörper in bezug auf K und zwar unverzweigter. Folglich gibt es eine mit den Idealklassen von k isomorphe Klasseneinteilung (absolute, d.h. mod1) in K. Wir sind zu Ende. Dass die Hauptklasse gerade aus den angegebenen Klassen besteht überlegen Sie sich leicht selbst. Allgemein ist der Idealklasse k aus k der Komplex derjenigen Klassen K aus K zuzuordnen, deren Norm nach k fallen. Das wesentliche ist dabei die Existenz solcher Klassen K, und das geht eben so einfach.

Ich lege deshalb Wert auf diesen Satz, da er (abgesehen vom hübschen Wortlaut) unmittelbar die Kummersche Vermutung bestätigt und verallgemeinert (Hilbert Zahlbericht Seite 378, dritte bis siebente Zeile von oben):

Satz. Sind k1 und k2 zwei im Körper der ln-ten Einheitswurzeln (l Primzahl, n beliebig) enthaltene Unterkörper, und ist k1 Unterkörper von k2, so ist die Klassenzahl von k1 Teiler der von k2. Genauer, die Gruppe der Klassen in k2 besitzt eine zu der von k1 isomorphe Faktorgruppe. (Also auch eine dazu isomorphe Untergruppe, (bekannter Satz über abelsche Gruppen)).

Zum Beweis braucht man nur zu zeigen, dass ein in R(z) (     2pi)
 z = eln enthaltener Unterkörper k1 keinen unverzweigten, in R(z) enthaltenen Oberkörper haben kann. Das ist aber trivial. Denn l wird in R(z), also auch in jedem Zwischenkörper Potenz eines Primideals ersten Grades. Ist l der Primteiler in k1, so wird folglich in jedem in R(z) liegenden Oberkörper l eine Potenz; geht also in der Relativdiskr[iminanten] auf.

Der Satz ist für zusammengesetzte m nicht mehr richtig. Denn der Körper der 20-ten Einheitswurzeln R( V~ ---
  - 5,i) hat die Klassenzahl 1, der Unterkörper R( V~ --5) die Klassenzahl 2.

Sie sehen, dass sogar durch triviale Verwendung der Klassenkörpertheorie noch hübsche Sätze zu erhalten sind.

Nun bin ich noch immer nicht zum Hauptidealsatz gekommen, was mir sehr leid tut, weil ich die dabei verwendete Methode für viel wichtiger halte als den Satz selbst. Dieser hat sich leider damit noch nicht ergeben. Wohl aber haben wir (Herr Schreier als Gruppentheoretiker tut hier mit) ihn für so viele Gruppentypen verifiziert dass schon zu sehen ist, dass es als hoffnungslos erscheinen muss ein Gegenbeispiel zu finden. Die Klassenzahl des Grundkörpers müsste in die Hunderte gehen; und das ist doch hoffnungslos.71

Also haben Sie bitte noch Geduld. Darf ich Sie bitten Ihrer Frau Gemahlin viele Grüsse zu bestellen. Leider waren Sie noch nicht verheiratet, als wir das letzte Mal über die Rez[iprozitäts]ges[etze] korrespondierten, sonst würde sie sich über den Eifer nicht wundern.72

      Viele Grüsse

      Ihr Artin Kommentare zum Brief Nr. 11:

  11.1 Primäre und hyperprimäre Zahlen
  11.2 Zum biquadratischen Reziprozitätsgesetz
  11.3 Teilbarkeit von Klassenzahlen
   11.3.1 Furtwängler, Tschebotareff, Hasse
   11.3.2 Publikationen