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29.10.1932, Noether an Hasse



Inhalt:

Hasses Besuch in England. Der Herbrand-Band. Hauptgeschlechtssatz. Artins Führer. Chevalley. Deurings Bericht. Springer und Abelsch.


Göttingen, 29. 10. 32

Lieber Herr Hasse!

Ich freue mich sehr, daß Sie Ihre England-Fahrt so genossen haben; noch schönen Dank für die Karte! 1)

Für den Herbrand-Band2) wollte ich eigentlich “Idealdifferentiation und Differente” nehmen, in Erinnerung daran daß das das letzte Gespräch mit Herbrand war, der daran dachte den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Differentendefinitionen in sein Memorial aufzunehmen falls es sich einfach genug machen ließ, was noch unsicher war.3) Aber wir haben auch so viel über hyperkomplexe Sachen gesprochen, daß das genauso persönlich ist, und ursprünglich hatte ich auch die “Maximalordnungen in verschränkten Produkten” für den Herbrand-Band bestimmt. So scheint es mir jetzt doch richtiger das zu nehmen; es wäre schade den Zusammenhang unserer Noten auseinanderzureißen. Ich werde also in diesem Sinn an Chevalley, dem ich noch nicht geantwortet habe, außer mündlich in Zürich, in diesen Tagen schreiben.

Eventuell können Sie unsere Noten schon bald hinschicken, da die Sachen ja doch getrennt gedruckt werden sollen; ich werde bei Chevalley fragen ob es Sinn hat. Ich lege heute zwei Ergänzungsseiten der Note bei, und bitte Sie dafür zu streichen: die letzte Zeile (Formelzeile: G = HS1 + ... + HSn) auf Seite 3, und Seite 4 bis Schluß des §; ebenso Anmerkung 6. Die alte Seite 4 muß dann 4b werden. Ich habe den Übergang zum verschränkten Produkt im nichtgaloisschen Fall etwas lesbarer gefaßt, und vor allem ein paar Ungenauigkeiten korrigiert: das alte uS war falsch definiert, und der explizite Ausdruck für das verschränkte Produkt bei beliebigem Faktorensystem war falsch. Ich habe ihn jetzt garnicht angegeben: er heißt K =  sum kvSk; wenn G =  sum HSH und vS = q-1uSq gesetzt. Das gilt vermutlich analog bei in k aufgehender Charakteristik p ; nach Modifikation Ihrer Beweismethode im Fall eines galoisschen k (Übergang zu Teil- und Erweiterungskörper und Verhalten der Faktorensysteme); das soll sich der Doktorand4) überlegen, ebenso wie explizite Faktorensystemausdrücke und ähnliches.

Ich lege auch den für die Annalen bestimmten “Hauptgeschlechtssatz” bei, mit der Bitte um gelegentliche Zurücksendung des Durchschlags. Falls Sie Anmerkungen haben, schreiben Sie diese vielleicht bald; ich werde noch ein paar Tage warten bis ich das Manuskript an Blumenthal schicke.5) Den Führer-Paragraph habe ich fortgelassen; er wurde so kompliziert daß es keinen Sinn hatte, da nichts damit gemacht wurde, und ich war mir auch nicht klar ob nicht bei abelscher Spezialisierung zu hohe Potenzen der Verzweigungsstellen herauskämen. Ich glaube, es wird weiterführen, wenn man direkt die Beziehungen zwischen Galoismoduln und verschränkter Darstellung an jeder Stelle verfolgt; die Führerdefinition und Beziehung zu den Artinschen Reihen wird sich dann vermöge der Deuringschen Sätze von selbst ergeben.6) Wird es schon bald Korrektur der Chevalleyschen Klassenkörpertheorie im Kleinen geben, die auch in diesen Fragenkreis gehört (Adresse von Deuring, der Korrekt[uren] bekommt: Department of Mathematics, Yale University, New Haven (Conn.), U.S.A.)7)

Nun ist noch eine tragikomische Geschichte zu erzählen: Springer, und zwar Ferdinand Springer in höchsteigener Person hat verfügt daß in den Annalen galoissch und abelsch mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben wird; eine schon gesetzte Arbeit von Ulm soll sogar umgeändert werden: Ihre wird ja bleiben. Ich habe Blumenthal vergeblich Material geliefert; z.B. Einheitlichkeit bei den Zahlentheoretikern, seit etwa einem Jahr, und platonische Liebe! Auch metabelsch!

Falls die Sache Sie genügend ärgert, können Sie ja bei mir schimpfen daß ich es weiter geben kann; Erfolg fraglich.

Nun herzliche Grüße, Ihre Emmy Noether.
        

Anmerkungen zum Dokument vom 29.10.1932

1Im Oktober 1932 hatte Hasse seinen Freund Davenport in Cambridge besucht, und auch Mordell in Manchester.

2Offenbar hatte Hasse vorgeschlagen, dass sie beide ihre Noten über Maximalordnungen an Chevalley für den Herbrand-Gedächtnisband senden, und Noether reagiert nun darauf. Vgl. die vorangegangenen Briefe *** vom 9.8, 3.8. und 21.7. Chevalley gab den Gedenkband für Herbrand heraus.

3Noethers Arbeit “Idealdifferentiation und Differente” (die sie schon 1929 auf der DMV-Tagung in Prag angekündigt hatte) hat sie nicht mehr vollendet. Die Arbeit erschien posthum 1950 im Crelleschen Journal Noe:1950 . - Bei dem angesprochenen Memorial Herbrands handelt es sich offenbar um die Zusammenfassung der Klassenkörpertheorie, die posthum von Chevalley herausgegeben wurde: Her:1935 .

4Wahrscheinlich Werner Vorbeck. Vgl. Brief * vom 3. 6. 1032.

5Vgl. Noe:1933a .

6Noether hatte versucht, die Artinschen Führer zu Charakteren der Galoisgruppe mit Hilfe von hyperkomplexen Systemen zu definieren und zu untersuchen. Im zahm verzweigten Fall hat sie das Programm in der Arbeit “Normalbasen bei Körpern ohne höhere Verzweigung” durchgeführt; diese war im Hensel-Festband des Crelleschen Journals erschienen Noe:1931 . Der Nachweis jedoch, dass der von Noether (im zahm verzweigten Fall) definierte Führer gleich dem Artinschen Führer ist, konnte allgemein erst sehr viel später von Fröhlich fro:1983 geführt werden. Vgl. die Anmerkung 3 zum Brief * vom 22.8.1931. Im wild verzweigten Fall ist, wie es scheint, Noether nicht durchgekommen.

7Gemeint ist die Arbeit Che:1933 . Dort zeigte Chevalley, wie sich die lokale Klassenkörpertheorie vom zyklischen auf den allgemeinen abelschen Fall ausdehnen lässt. Der zyklische Fall war von Hasse mit dem von ihm lokal definierten Normenrestsymbol in Has:1933 erledigt worden. Hasse selbst hatte sich die Übertragung vom zyklischen auf den abelschen Fall schon überlegt; nachdem sich jedoch herausgestellt hatte, dass auch Chevalley das ungefähr gleichzeitig gemacht hatte, verzichtete Hasse auf eine eigene Publikation und akzeptierte Chevalleys Arbeit für das Crellesche Journal. Vgl. dazu die Anmerkungen zum Brief vom 3. 6. 1932. - Deuring, der sich damals mit einem Stipendium in Yale aufhielt, sollte die Chevalleysche Arbeit noch in seinem Ergebnisband über Algebren Deu:1935b berücksichtigen. Die Chevalleysche Arbeit wird in der Tat im Deuringschen Buch zitiert, jedoch wird dort lediglich gesagt, ohne auf Einzelheiten einzugehen: “Den Beweis des Reziprozitätsgesetzes und die Theorie des Normenrestsymbols von zyklischen auf abelsche Körper auszudehnen, bietet keine Schwierigkeiten”.Vgl. dazu auch den Brief * vom 3. 6. 1932.