Olga Taussky (1806–1995) war 1929 bei Furtwängler in Wien promoviert worden. Am 24.8.1930 hatte sie ihre Dissertation an Hasse geschickt, zusammen mit der Ankündigung, dass sie den in ihrer Dissertation bewiesenen Satz verallgemeinert habe. Wie diese Verallgemeinerung aussieht, sagte sie noch nicht, lediglich dass es sich um eine Frage über Kapitulation von Idealen in Teilkörpern des Klassenkörpers handele. Sie kündigte jedoch an, dass sie auf der demnächst stattfindenden DMV-Tagung in Königsberg darüber sprechen werde.
Die Königsberger DMV-Tagung fand vom 4.–7.September 1930 statt. Gleich am ersten Tag hielt Taussky ihren Vortrag. Sie selbst berichtet darüber in [Tau81] wie folgt:
„I myself gave a short paper at this meeting. It concerned my thesis, written under Furtwängler, entitled „Über eine Verschärfung des Hauptidealsatzes.“ As soon as I had finished Emmy40 jumped up and made a quite lengthy comment which, unfortunately, I was unable to understand because of insufficient training. However, Hasse understood it and replied to it at some length, and there developed between these two mathematicians some sort of duet which they enjoyed thoroughly.“
Hasse war von Olga Taussky’s Resultat offenbar so beeindruckt, dass er anbot, ihre Arbeit im Crelleschen Journal zu publizieren. Die Arbeit [Tau32] erschien dann 1932 in Band 168.
Artin war nicht zu der DMV-Tagung nach Königsberg gefahren. Offenbar hatte ihm Hasse deshalb einiges über die Tagung berichtet, auch über den Vortrag von Taussky, vielleicht auch über seine Diskussion mit Emmy Noether dazu. Artin erkundigt sich nun nach den Einzelheiten. Wenn Artin schreibt, dass ihn das sehr interessiere, dann liegt das sicher an der von Taussky behandelten Fragestellung, nämlich der Kapitulation von Idealen in Teilkörpern des Klassenkörpers. Wir erinnern daran, dass Artin schon in früheren Briefen an solchen Fragen Interesse gezeigt hatte; siehe die Briefe Nr.20–25 aus der Zeit von November 1928 bis Januar 1929.
Anscheinend hat Hasse an Taussky geschrieben und ihr berichtet, dass sich Artin für ihre Arbeit interessiere. Am 6.10.1930 schrieb daraufhin Taussky an Hasse:
„…Ich danke Ihnen auch vielmals, daß Sie Professor Artin auf meine Dissertation aufmerksam machen wollten. Ich lasse gleichzeitig einen Abzug an ihn gelangen.“
Welche Ergebnisse hat denn nun Olga Taussky in Königsberg vorgetragen? Sie hat in [Tau31] einen Bericht über diesen Vortrag gegeben. Es erscheint uns aber besser, stattdessen aus der publizierten Arbeit [Tau32] zu zitieren:
Ist für einen algebraischen Zahlkörper die absolute -Klassengruppe vom Typus (,,…,), so läßt sich für sie eine Basis c1,c2,…,cn so finden, daß jede Basisklasse ci bereits in einem unverzweigten relativ zyklischen Oberkörper vom Relativgrade Hauptklasse wird.
Für = 2, so berichtet Taussky, war dieser Satz von Furtwängler bewiesen worden.41 Jedoch:
Für beliebige Primzahlen ist der Satz nicht allgemein richtig. Wir werden aber hinreichende Bedingungen für den Grundkörper k formulieren, bei deren Bestehen der Hauptidealsatz in dieser verschärften Form gilt. Diese Bedingungen werden als Eigenschaften der zweistufigen Relativgruppe des zweiten Klassenkörpers in Bezug auf den Grundkörper k auftreten. Weiter werden wir zeigen, dass sich mit Hilfe der zweistufigen Gruppe allein nicht entscheiden läßt, ob die Verschärfung allgemein gilt …
Es handelt sich also nicht um ein abschliessendes Resultat, sondern sozusagen um das Ergebnis eines Tests: wie weit läßt sich die Furtwänglersche Frage allein mit Hilfe der zweistufigen Galoisgruppe entscheiden? Wir haben schon früher in 21.1 berichtet, dass Furtwängler in einem Brief an Hasse dieses (negativ zu wertende) Ergebnis angesprochen hat.
Kisilevsky in seinem Nachruf [Kis97] auf Olga Taussky sieht als Ergebnis ihrer Arbeit [Tau32] die Erkenntnis, dass
„the pattern of capitulation in cyclic unramified extensions of degree behaved in a rather chaotic manner and depended both on and - 2.“
Wie Artin ja selbst schreibt, war er grundsätzlich an Fragen dieser Art sehr interessiert. Das ergibt sich außerdem aus den früheren Briefen, die wir oben zitiert haben. Es erscheint uns daher merkwürdig, dass Artin auf Hasses genaueren Bericht nicht direkt geantwortet hat, und auch später nicht in dem Briefwechsel mit Hasse darauf zurückgekommen ist. Wir kennen den Grund dafür nicht. Vielleicht fehlte ihm hinsichtlich der Gruppentheorie die Unterstützung seines Freundes und Mitarbeiters Otto Schreier, der 1929 verstorben war? Jedenfalls berichtet Kisilevsky in [Kis97], dass Artin noch Jahre später diese Art Fragestellungen als „hopeless problems“ betrachtete.
Artins wichtigstes Anliegen war es ja immer gewesen, Gesetzmäßigkeiten in galoisschen nicht-abelschen Erweiterungen zu finden, insbesondere die Zerlegungsgesetze. Aber beim Kapitulationsproblem hat er wohl gesehen, dass man mit den bisherigen Methoden nicht weiterkommen kann.
Dass das Kapitulationsproblem „hopeless“ ist, gilt auch heute noch. Die vielen Arbeiten zu diesem Problem zeigen, dass man außer in speziellen Fällen nicht an das Problem herankommt. Fast alle Möglichkeiten von Kapitulationen können auftreten; es sind keine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. In diesem Zusammenhang erwähnen wir noch die Arbeit von Heider und Schmithals [HS82], die im Laufe der historischen Entwicklung eine Rolle gespielt hat, und wo auch umfangreiche numerische Beispiele angegeben werden.