Artin kannte die Arbeit [Has27d] von Hasse zur Komplexen Multiplikation und hatte eine hohe Meinung davon. Vgl. Brief vom 10.2.1926 und 6.1. Von daher erscheint es verständlich, wenn sich Artin an Hasse wendet, um für die von ihm herausgegebene Sammlung ein Buch über Komplexe Multiplikation anzuwerben. Zwar gab es damals schon ein Buch über komplexe Multiplikation, nämlich Fueters „Vorlesungen“ [Fue24]. Dies Buch war jedoch auf Kritik gestoßen; Hasse selbst hatte im Jahresbericht der DMV eine ziemlich kritische Buchbesprechung geliefert [Has26b]. Es gab damals ein Bedürfnis, eine umfassende und präzise Darstellung der Theorie der Komplexen Multiplikation in Buchform zu haben, insbesondere da Hasse durch seinen Klassenkörperbericht die Klassenkörpertheorie weiteren Kreisen zugänglich gemacht hatte.
Vielleicht hatte Artin auch von Hecke den Rat bekommen, sich an Hasse zu wenden. Jedenfalls hatte Hecke schon früher, am 6.2.1926, an Hasse geschrieben und eine Buchpublikation angeregt:
„Die endliche Abrundung der Theorie der komplexen Multiplikation, die noch ausstand, ist durch Ihre schöne und sehr einleuchtende Theorie nun geleistet. Ich finde die Sache so wichtig, daß Sie die Arbeit doch recht bald und vollständig und nachdrücklich publizieren sollten, um das nachlässige Fuetersche Buch zu kompensieren.“
Wir haben aber keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Hasse jemals ernsthaft den Plan eines Buches über komplexe Multiplikation erwogen hatte. Wenn sich Artin im folgenden Brief (Nr.32 vom 10.10.1930) über Hasses „halbe Zusage“ bedankt, so ist das wohl nur so zu verstehen, dass Hasse nicht sofort abgelehnt hatte; vielleicht hatte Hasse seine Antwort als „halbe Absage“ abgefasst. Hasse hatte schon seit einiger Zeit einen Vertrag mit dem Springer-Verlag über eine zweibändige „Zahlentheorie“, wobei in dem ersten Band die Grundlagen der algebraischen Zahlentheorie auf der Basis der Henselschen p-adischen Körper behandelt werden sollte, und im zweiten Band die Klassenkörpertheorie.38 Vielleicht hatte Hasse in seiner Antwort an Artin auf diesen Vertrag mit dem Springer-Verlag hingewiesen; das würde die Anfrage Artins in seinem nächsten Brief Nr.32 erklären, wo er sich nach den „Bedingungen bei Springer“ erkundigt.
In den folgenden Jahren war von dem Buchprojekt „Komplexe Multiplikation“ nicht mehr die Rede.
Die „Sammlung Hilb“, von der Artin spricht, war eine Buchreihe mit dem Titel „Mathematik in Monographien und Lehrbüchern“, die in der Akademischen Verlagsanstalt Geest & Portig in Leipzig erschien und von Emil Hilb (Würzburg) ins Leben gerufen worden war. In dieser Sammlung war z.Bsp. kürzlich das Algebra-Buch von Hilbs erstem Doktoranden, Otto Haupt [Hau29] erschienen, worin zum ersten Mal die „Moderne Algebra“ im Sinne von Emmy Noether dargestellt war.39 Nach dem Tod von Hilb im Jahre 1929 hatte Artin die Herausgabe dieser Buchreihe übernommen, wie er berichtet.