Schon im Brief Nr.19 vom 4.11.1928 hatte Artin einen „verallgemeinerten Hauptidealsatz“ erwähnt, den Furtwängler einmal vermutet hatte, aber an den jener jetzt nicht mehr glaube. Allerdings erläutert Artin diese vermutete Verallgemeinerung nicht genauer, er schreibt nur dass es sich um „den Hauptidealsatz in geeigneten Teilkörpern“ handelt. Artin setzt offenbar voraus, dass Hasse sich daran erinnert. Auch Scholz spricht in einem Brief vom 15.10.1928 an Hasse von einem vermuteten „verschärften Hauptidealsatz“ von Furtwängler, ohne allerdings diesen genauer zu formulieren. Es scheint sich also um eine damals bei den Fachleuten allgemein bekannte Vermutung gehandelt zu haben.
In seinem Klassenkörperbericht II [Has30c] spricht nun Hasse von der Vermutung,
„dass sich der im absoluten Klassenkörper zum Abschluss kommende Prozess des Hauptidealwerdens in den Teilkörpern derart vorbereitet, dass in jedem Teilkörper vom Grade n eine Untergruppe der Klassengruppe des Grundkörpers der Ordnung n in die Hauptklasse fällt.“
Und im Anschluss daran berichtet Hasse, dass Furtwängler diese Vermutung in einigen Spezialfällen bestätigt habe. Ist dies also der von Artin und Scholz erwähnte, von Furtwängler vermutete „verallgemeinerte Hauptidealsatz“?
Der Sachverhalt klärt sich auf, wenn man einen Brief von Furtwängler an Hasse vom 23.August 1930 heranzieht. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hasse seinen Klassenkörperbericht II fertiggestellt, und er hatte die Druckfahnen auch an Furtwängler nach Wien geschickt mit der Bitte um Meinungsäußerung. In seiner Antwort teilte Furtwängler nun mit, dass es sich um zwei verschiedene Vermutungen zum Kapitulationsproblem handele – je nachdem wie der Text, den wir oben zitiert haben, interpretiert wird. Es geht um eine unverzweigte27 abelsche Körpererweiterung K|k und die Gruppe C derjenigen Idealklassen von k, welche in K kapitulieren. Die erste Version der Furtwänglerschen Vermutung behauptet nun,28
dass die Ordnung von C mindestens so groß ist wie der Körpergrad, also |C|> [K : k].
Hierzu schreibt Furtwängler am 23.August 1930: „Ich halte diese Vermutung auch heute noch für richtig.“ Diese Version kann also nicht diejenige sein, die Artin in seinem Brief Nr.19 gemeint hatte, als er schrieb, Furtwängler glaube nicht mehr an die Gültigkeit.
Immerhin wissen wir heute, dass diese erste Vermutung inzwischen verifiziert worden ist. Wenn K|k zyklisch ist, dann handelt es sich um den Hilbertschen „Satz 94“, genauer: um den verallgemeinerten Hilbertschen Satz 94, denn Hilbert betrachtet nur den Fall dass der Körpergrad [K : k] eine ungerade Primzahl ist. Es hat jedoch lange gedauert bis diese Furtwänglersche Vermutung (also die erste Version) allgemein bewiesen wurde, d.h. auch für nichtzyklische Körper. Der Beweis wurde erst 1991 durch Suzuki [Suz91] gegeben, und zwar in der gruppentheoretischen Formulierung, die Artin dieser Frage in seiner Arbeit [Art29] gegeben hatte (und auch in dem Brief an Hasse vom 2.8.1927), nämlich:
Es sei G eine endliche Gruppe und H eine Untergruppe, die die Kommutatorgruppe von G enthält. Die Ordnung des Kerns C der Verlagerungsabbildung V : Gab Hab ist dann mindestens gleich dem Gruppenindex (G : H), also |C|> (G : H).
Es scheint jedoch in Vergessenheit geraten zu sein, dass diese Vermutung von Furtwängler stammt.
Die zweite Version der Furtwänglerschen Vermutung lautete nun, wie er selbst an Hasse schreibt,
dass, jedenfalls im zyklischen Fall, die Gruppe C mindestens eine zyklische Untergruppe der Ordnung [K : k] enthält, dass also der Exponent von C mindestens so groß ist wie der Körpergrad.
Es war diese zweite Vermutung, die Furtwängler nicht aufrechterhalten konnte; er schreibt dazu an Hasse am 23.August 1930:
„Ich hielt diese Vermutung deshalb für richtig, weil ich annahm, dass sich die Theorie der Relativgrundeinheiten in genügendem Umfang vom Fall einer Primzahl auf den Fall einer Primzahlpotenz e übertragen liesse. Das ist aber nicht der Fall.29 Zur Widerlegung der angegebenen Vermutung habe ich dann eine passende Gruppe aufgesucht, zu der Artin einen zugehörigen Körper gefunden hat.“
Gemeint ist dabei eine zweistufig metabelsche Gruppe, die als Galoisgruppe des zweiten Klassenkörpers eines geeigneten Grundkörpers realisiert werden könnte. In dem vorliegenden Brief beschreibt also Artin diese Gruppe, die Furtwängler gefunden und ihm dann mitgeteilt hatte. Und ebenso beschreibt er den von ihm (Artin) aufgefundenen zugehörigen Grundkörper, nämlich ().
In einer späteren Arbeit [Fur32] ist Furtwängler noch einmal auf dieses Thema im Falle einer 2-elementaren Klassengruppe zurückgekommen, und seine Schülerin Olga Taussky hat dies für Primzahlen > 2 diskutiert [Tau32]. Abschliessende Ergebnisse dazu wurden jedoch nicht erzielt. Siehe dazu auch 31.4.
Das Problem der Kapitulation von Idealen des Grundkörpers in Teilkörpern des Klassenkörpers hat danach mehrere Generationen von Mathematikern beschäftigt. Einen Überblick über die reichhaltige Literatur geben Miyake [Miy89] und Jaulent [Jau88]. Auch in dem Nachruf von Kisilevsky für Olga Taussky-Todd [Kis97] findet sich eine Reihe von historischen Angaben zum Kapitulationsproblem.
ZUSATZBEMERKUNG: Vielleicht ist es nicht uninteressant, aus dem genannten Brief von Furtwängler an Hasse auch noch die folgenden Sätze zu zitieren, welche zeigen, wie Hasses Klassenkörperbericht II von den zeitgenössischen Fachvertretern eingeschätzt wurde:
„Zum Schluss möchte ich doch noch meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, einen so schönen und ausführlichen Bericht zu verfassen. Er ist in seiner Art ausgezeichnet und gibt einen sehr klaren und durchsichtigen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Theorie. Es ist zu hoffen, dass er die Zahl der Interessenten für dieses Gebiet, das ich zu den schönsten der gesamten Mathematik rechne, erheblich vergrössern wird.“