Wenn Artin seine „herzlichen Glückwünsche zur schönen Darstellung der komplexen Multiplikation“ ausspricht, dann bezieht er sich auf einen Brief, den Hasse vor kurzem, nämlich am 22. Dezember 1925 an Hecke geschrieben hatte. Zwar war der Brief direkt an Hecke adressiert, aber aus dem Brief selbst ist zu entnehmen, dass er auch zur Kenntnis von Artin gelangen sollte. Es heißt dort nämlich:40
Lieber Herr Hecke! In meiner großen Freude über ein nunmehr endlich meinen Anforderungen genügendes Resultat in der komplexen Multiplikation fühle ich mich gedrungen, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Denn ich weiß, daß Sie, und auch Herr Artin diesem Gegenstande großes Interesse entgegenbringen…
In seinem Antwortbrief vom 6.Februar 1926 entschuldigt sich Hecke zunächst dafür, dass er sich nicht schon vorher für Hasses Brief bedankt habe. Weihnachten, eine Reise und die „Bohr-Woche“ in Hamburg (offenbar zu Ehren von Harald Bohr) hätten ihn daran gehindert. Und weiter:
…Artin ist übrigens von Ihrer Arbeit auch sehr entzückt, ich habe sie ihm zur Einsicht gegeben, in der Annahme, dass Sie damit einverstanden sind.
Und vier Tage darauf, also am 10.Februar 1926, schreibt nun Artin an Hasse und gratuliert ihm zur gelungenen Darstellung der komplexen Multiplikation.
Wir haben also in diesem Falle, anders als bei der übrigen Artin–Hasse-Korrespondenz, Kenntnis von dem Brief, den Hasse geschrieben hatte und auf den sich Artin bezieht. Jener Brief, adressiert an Hecke, umfasst 12 eng beschriebene Seiten. Hasse beschreibt darin seinen neuen Ansatz zur Begründung der komplexen Multiplikation. Zu Beginn heisst es darin:
…Mein Ziel war, wie ich es Ihnen schon ausführte, zu einer
funktionentheoretischen Konstruktion des Strahlklassenkörpers
mod nach einem beliebigen
Ideal
eines imaginär–quadratischen Zahlkörpers k mittels einer
elliptischen Funktion 1.Stufe zu gelangen, ohne irgendwie in
die Theorie der elliptischen Funktionen 2.Stufe eindringen zu
müssen, womit ja notwendig gewisse Unregelmässigkeiten und
Beschränkungen für die zu 2 nicht primen
verbunden sind.
In der Ihnen neulich auseinandergesetzten Skizze war dieses
Ziel nur teilweise erreicht, indem zu den Beweisen der auf
(u) bezüglichen Sätze doch noch die Jacobischen elliptischen
Funktionen 2.Stufe heranzuziehen waren. Davon habe ich mich
jetzt ganz frei gemacht. Überdies habe ich das wenig elegante
Additionstheorem von
(u) völlig vermieden und stütze die ganze
Theorie allein auf Reihenentwicklung …
Eine ausführliche Darstellung mit eben dieser Zielsetzung publizierte Hasse dann 1927 in seiner Arbeit „Neue Begründung der komplexen Multiplikation“ im Crelleschen Journal [Has27d]. Diese Arbeit, die u.a. einen Beweis des sog. Kroneckerschen Jugendtraums (in der heute akzeptierten Version) enthält, wurde grundlegend für die weitere Entwicklung der Theorie der komplexen Multiplikation. Die Tatsache, dass die Theorie „allein auf die Reihenentwicklung“ gestützt wird, bedeutet im wesentlichen, dass die elliptischen Kurven als abelsche Mannigfaltigkeiten aufgefasst werden; das ist der Gesichtspunkt, der heute vorherrschend ist. Es ist hier nicht der Ort, darauf im Detail einzugehen; wir beabsichtigen, das später an anderer Stelle zu tun. Hier stellen wir nur fest, dass Hasse den Entwurf zu seiner Arbeit vor Fertigstellung der endgültigen, zur Publikation bestimmten Fassung Hecke und Artin vorgelegt hat.
Dass Hasse zuerst an Hecke und nicht direkt an Artin schrieb, hatte seinen Grund wohl darin, dass er schon vorher mit Hecke über gewisse Einzelfragen der komplexen Multiplikation korrespondiert hatte. Jene Korrespondenz ist zumindest teilweise erhalten. Während seiner Studienzeit in Göttingen 1919/20 hatte Hasse bei Hecke Vorlesungen über komplexe Multiplikation gehört, die ihn sehr beeindruckten.41 Hasse hat Hecke stets als seinen zweiten akademischen Lehrer angesehen. (Der “ erste“, obwohl nicht in zeitlicher Reihenfolge, war Hensel.)
Artins Kommentare zu Hasses Brief zeigen, dass er mit der Theorie der komplexen Multiplikation auch im Detail vertraut war. Das lag sicherlich auch an seiner Nähe zu Hecke als Kollege in Hamburg. (Allerdings ist Artin in seinen Publikationen niemals darauf eingegangen.)
Als Artin am Wochenende 14.-17. Juli 1923 einen Besuch bei Hasse in Kiel machte42 , da haben sie sich auch über komplexe Multiplikation unterhalten. Denn wir haben im Hasseschen Tagebuch eine Eintragung unter dem Datum vom 17.7.1923 gefunden mit dem Titel:
Die Eintragung betrifft die Erzeugung des Strahlklassenkörpers zu einem Ideal eines imaginär quadratischen Zahlkörpers, also genau die Fragestellung, die Hasse nach seinem oben zitierten Brief an Hecke behandelt hat. Hierzu siehe auch 22.5, insbesondere Seite 439.
Wenn Artin die Multiplikatorgleichung erwähnt, so bezieht er sich auf
eine Fußnote in Hasses Brief. Es handelt sich um folgendes: ist ein
imaginär quadratischer Körper und
ein Ideal des Ringes der ganzen
Elemente in
. Der durch Adjunktion des „singulären“ Wertes j(
) der
j-Funktion entstehende Körper
(j(
)) ist identisch mit dem absoluten
Klassenkörper von
. Um das nachzuweisen, zeigt Hasse die Gültigkeit der
Kongruenz
für Primideale vom Grad 1 aus
. (Dabei ist p die Norm von
.) Eigentlich
würde es genügen, diese Kongruenz modulo einem Primteiler
von
in
(j(
))
zu verifizieren. Aber Hecke hatte Hasse darauf aufmerksam gemacht, dass die
Kongruenz am besten modulo
bewiesen wird, was aus mancherlei Gründen
sinnvoll ist. Hecke hatte ihm auch einen Beweis geliefert, jedoch ist Hasses Beweis
anders, er benutzt die sog. Multiplikatorgleichung und schreibt dazu in einer
Fußnote:
Da man die Multiplikatorgleichung doch in der Theorie des absoluten Klassenkörpers braucht, dürfte dieser Weg zum Nachweis des Zerlegungssatzes in K wohl der einfachste und zugleich weittragendste sein. Er überträgt sich übrigens auch auf den Ringklassenkörper.
Es ist anzunehmen, dass Artin den Heckeschen Beweis vor Augen hatte als er
schrieb, dass man allein mit der Transformationsgleichung für die j()
auskommt. (Dabei ist
=
der Quotient einer Basis von
.) Hasse
hat übrigens sein Manuskript daraufhin nicht geändert; der publizierte
Beweis läuft im wesentlichen so, wie es in seinem Konzept vorgesehen
war.
Die Aussage, dass die 12-te Potenz eines Ideals im Klassenkörper Hauptideal wird, kommt in der Tat in einem Hilfssatz im Hasseschen Konzept vor (und auch in der publizierten Fassung). Es handelt sich um ein Teilresultat des Hauptidealsatzes welcher besagt, dass schon jedes Ideal selbst, und nicht erst seine 12-te Potenz, im absoluten Klassenkörper zu einem Hauptideal wird. Dieser Hauptidealsatz gilt ganz allgemein in der Klassenkörpertheorie, war jedoch zur Zeit der Abfassung des Artinschen Briefes noch nicht bewiesen. (Der Beweis wurde erst 1928 von Furtwängler gegeben, im Rahmen des von Artin entwickelten gruppentheoretischen Formalismus der Verlagerung [Fur29], vgl. 13.1.3.) Im vorliegenden Falle geht es um den Beweis des Hauptidealsatzes im Spezialfall der komplexen Multiplikation. Artin war anscheinend mit dem Teilresultat aus dem Hasseschen Manuskript nicht zufrieden und steuerte auf den vollen Hauptidealsatz zu. Siehe hierzu auch 47.1.
Am Schluss seines Briefes an Hecke stellt Hasse die Frage, ob man
vielleicht zur Erzeugung der über abelschen Körper mit den Teilwerten der
Weberschen
-Funktion (in der Hasseschen Normierung) auskommt, ohne die
singulären Werte j(
) der j-Funktion, die die Ringklassenkörper erzeugen. Er
bezeichnet dies als ein „sehr tiefliegendes Problem“ und kommt zu dem
Schluss, nachdem er das Problem von verschiedenen Seiten beleuchtet
hat:
Ich habe sie [die Frage] von keinem dieser vielen Perspektiven aus anpacken können. Ich wage daher auch nicht die Richtigkeit zu vermuten.
Artin findet also diese Frage „sehr interessant“. (Er spricht jedoch nicht von
sondern von der Weierstraß’schen
-Funktion, von der sich
durch einen
Normierungsfaktor unterscheidet.) Im Jahre 1933 beantwortete Sugawara [Sug33]
die Hassesche Frage im positiven Sinne. Die weitergehende Frage jedoch, ob sich
jeder relativ abelsche Körper über einem imaginär-quadratischen Körper allein
durch einen einzigen singulären Wert der Weberschen
-Funktion erzeugen lässt,
konnte in der Arbeit von Sugawara nicht überzeugend erledigt werden (sein
Beweis enthielt einen Fehler). Später, im Jahre 1936 konnte er dann zeigen
[Sug36a], [Sug36b], dass dies für die Strahlklassenkörper „fast immer“ der Fall ist.
Diese beiden Arbeiten von Sugawara wurden von Hasse für das Crellesche Journal
angenommen.