Artin hatte im vorangegangenen Brief Nr.19 darum gebeten, ihm die Resultate von Arnold Scholz mitzuteilen. Wir wissen nicht genau, was Hasse nunmehr an Artin über die damals neuesten Resultate von Scholz geschrieben hatte. Es ist jedoch anzunehmen, dass es sich um diejenigen Resultate handelte, die sich in den beiden Briefen finden, die Hasse kurz davor von Scholz erhalten hatte; jene Briefe sind am 15. und 24.10.1928 datiert. Es geht in diesen Briefen um die im folgenden genannten drei Themenkreise.
Wir erinnern daran, dass sich Artin schon vor mehr als einem Jahr zum Klassenkörperturmproblem geäußert hatte, nämlich in dem Brief Nr.15 vom 19.8.27. Damals meinte Artin, dass es sich dabei im Gegensatz zum Hauptidealproblem nicht um eine gruppentheoretische Frage handelt, sondern dass „erst die spezielle arithmetische Struktur des Grundkörpers den Ausschlag geben wird.“ Das können wir so interpretieren, dass es nach Artins Meinung wohl Körper mit unendlichem, aber auch solche mit endlichem Klassenkörperturm geben könne, abhängig eben von der arithmetischen Struktur des Körpers. Siehe 15.1.
Scholz zeigt nun in seinem Brief zwar nicht, dass es Zahlkörper mit unendlichem Klassenkörperturm gibt, aber immerhin konstruiert er Körper K mit einem beliebig hohen Klassenkörperturm. Wir haben das schon in 15.1.2 erwähnt. Es ist bemerkenswert, dass die Scholzsche Konstruktion, obwohl sie das Klassenkörpertumproblem nicht löst, tatsächlich nicht gruppentheoretischer Natur ist, sondern auf der Konstruktion von Körpern mit speziellen arithmetischen Eigenschaften beruht – so wie es Artin vorgeschwebt hatte.
Genauer: Scholz betrachtet nicht den vollen Klassenkörperturm, sondern den Turm der -Klassenkörper für eine fest gewählte Primzahl . (Der -Klassenkörper ist der maximale unverzweigte abelsche Körper mit -Potenzgrad.) Die Konstruktion verläuft wie folgt: Es bezeichne Kp den zyklischen Körper -ten Grades im Körper der p-ten Einheitswurzeln, wobei p als Primzahl 1 mod angenommen wird. Der Reihe nach gibt nun Scholz für die Primzahlen p1,p2,…pn+1 gewisse -Potenzrestbedingungen an, die garantieren, dass das Kompositum K = Kp1Kpn+1 einen mindestens n-stufigen -Klassenkörperturm besitzt. Und, so sagt Scholz, dasselbe gilt für jeden zyklischen Teilkörper K K, in dem alle p1,…,pn+1 verzweigt sind, denn der erste -Klassenkörper von K ist K.
Hasse hat dann diese Arbeit von Scholz in das Crellesche Journal aufgenommen [Sch29b]. Zur weiteren Entwicklung des Klassenkörperturmproblems siehe 15.1.
In der Scholzschen Konstruktion, wie sie im vorangegangenen Abschnitt geschildert wurde, wurden an die Primzahlen pi gewisse Potenzrestbedingungen gestellt. Wenn man nun stattdessen geeignete Nichtrestbedingungen stellt, so „wird man vermuten“, schreibt Scholz an Hasse, „dass man dadurch zu einem niedrigen Klassenkörperturm gelangen kann.“ In der Tat gelingt es Scholz, durch geeignete Bedingungen an p1,p2,p3 zu erreichen, dass schon ein dreifaches Kompositum K = Kp1Kp2Kp3 die -Klassenzahl 1, also einen 0-stufigen -Klassenkörperturm besitzt.
Daraus schließt er dann, dass jeder zyklische Teilkörper K Kp1Kp2Kp3, in welchem p1,p2,p3 verzweigen, die folgende Eigenschaft besitzt:
Der -Klassenkörper von K ist K, und in jedem über K zyklischen Teilkörper K'K kapitulieren schon alle -Idealklassen22 von K d.h. sie werden zu Hauptidealen.23
Offenbar hatte ihn Hasse gefragt ob es möglich sei, dass schon in einem echten Teilkörper des Hilbertschen Klassenkörpers die volle Idealklassengruppe kapituliert, und Hasse wünschte Beispiele dafür. Durch die oben beschriebene Konstruktion hatte Scholz nun Hasses Frage beantwortet. Im Falle = 2 war übrigens ein Grundkörper mit den gewünschten Eigenschaften bereits bekannt, nämlich schon 1916 hatte Furtwängler [Fur16] dafür den Körper () angegeben. Deshalb fragte Hasse jetzt insbesondere nach einem kubischen Beispiel.
Die Scholzschen Beispiele beziehen sich auf eine beliebige Primzahl > 2; insbesondere aber für = 3 findet Scholz auf diese Weise einen kubischen Körper K, dessen 3-Klassengruppe nichtzyklisch der Ordnung 9 ist, die aber bereits in einer zyklischen Erweiterung vom Grad 3 vollständig kapituliert.
Scholz publizierte seine Resultate auf Anraten von Hasse im Crelleschen Journal [Sch29b]. Fast zeitgleich erschien eine Arbeit von Pollaczek [Pol29], die ebenfalls Beispiele für beliebiges > 2 enthält.
Zur Frage, ob schon in einem Teilkörper des Hilbertschen Klassenkörpers die volle Idealklassengruppe kapituliert, siehe auch etwa [Iwa89a], [Iwa89b].
Wenn Artin zu den Scholzschen Resultaten schrieb: „natürlich kann ich dazu nicht sehr viele Bemerkungen machen“, dann handelte es sich wahrscheinlich um diejenigen Resultate von Scholz, die wir in den vorangegangenen beiden Abschnitten 20.1.1 und 20.1.2 besprochen haben. Zu einem weiteren Thema macht er aber dann doch noch einige Bemerkungen, nämlich zu dem Satz über die Kapitulation von Idealen bei imaginär-quadratischem Grundkörper. In jeder zyklischen unverzweigten Erweiterung -ten Grades, so lautet der Satz von Scholz, kapitulieren dann genau Idealklassen.
Bei diesem Ergebnis geht es also ebenfalls um die Kapitulation von Idealen in einem Teilkörper des Klassenkörpers, wie schon bei dem Problem, das wir in dem vorangegangenen Abschnitt 20.1.2 dargestellt haben. Aber jetzt lautet die Frage nicht, ob in einem Teilkörper viele oder gar alle Ideale des Grundkörpers kapitulieren, sondern es geht darum, Beispiele zu finden, in denen nicht zu viele Ideale kapitulieren. Im vorliegenden Falle also kapitulieren nur genau so viel Idealklassen, wie der Grad des betr. Teilkörpers beträgt – vorausgesetzt, dass der Teilkörper zyklisch vom Grad über dem imaginär-quadratischen Grundkörper ist.
Artin fragt ob dies eine Vermutung oder eine Behauptung sei.
Artin begegnet dieser Frage zunächst gruppentheoretisch; dies entspricht seinem Ansatz, den er in seinem Brief Nr.13 vom 2.8.1927 auseinandergesetzt hatte. (Siehe 13.1.2.)24 Die gruppentheoretische Strukturaussage, die Artin im Auge hat, bezieht sich auf die Galoisgruppe G des zweiten -Klassenkörpers . Dies ist eine zweistufig metabelsche -Gruppe. Die Behauptung über die Kapitulation in einer zyklischen unverzweigten -Erweiterung des Grundkörpers läßt sich nun nach dem Artinschen Ansatz gruppentheoretisch wie folgt formulieren:
Ist H G eine Untergruppe mit zyklischer Faktorgruppe G/H, so besitzt der Kern der Verlagerungsabbildung V : Gab Hab die genaue Ordnung (G : H).
Dabei bezeichnet Gab die maximale abelsche Faktorgruppe von G. Dieser Satz ist nicht für alle zweistufig metabelschen -Gruppen richtig, er bedeutet also eine erhebliche Einschränkung der möglichen Gruppen, die als Galoisgruppen des zweiten -Klassenkörpers über einem imaginär-quadratischen Körper realisierbar sind.
Artin kann sich nun nicht vorstellen, dass man aus der Tatsache, dass der Grundkörper imaginär-quadratisch ist, einen solchen gruppentheoretischen Satz für die Gruppe G herleiten kann. Es sei denn, man würde die Theorie der komplexen Multiplikation benutzen.
In dem Brief von Scholz an Hasse vom 15.10.1928 findet sich nun der in Rede stehende Satz mit einer Begründung, die nicht gruppentheoretisch ist, sondern sich direkt auf die arithmetische Struktur der imaginär-quadratischen Körper bezieht. Scholz schreibt:
„Ist nun der Grundkörper K ein imaginär–quadratischer Zahlkörper, so wird wegen Fehlens von Einheiten in K in einem Unterkörper -ten Grades des Klassenkörpers von K nur eine Untergruppe -ter Ordnung von Idealklassen aus K zum Hauptideal.“
Damit wird Artins Frage beantwortet, nämlich: der Scholzsche Satz ist eine Folge des „Fehlens von Einheiten“; gemeint ist natürlich das Fehlen von Einheiten unendlicher Ordnung. Das hat direkt nichts mit komplexer Multiplikation zu tun. Offenbar hat Hasse dies in einem weiteren Brief an Artin erklärt, was wir aus Artins Reaktion in seinem übernächsten Brief Nr.22 vom 19.11.1928 entnehmen (siehe 22.1).
Als numerisches Beispiel diskutiert Scholz in seinem Brief an Hasse den imaginär-quadratischen Grundkörper K = (), dessen 3-Klassengruppe vom Typus (3,3) ist. Diese Diskussion führt er später gemeinsam mit Olga Taussky fort; sie mündet 1934 in die Arbeit [ST34].
BEMERKUNG: Dass die Kapitulation mit der Einheitengruppe E zusammenhängt, geht schon aus Hilberts Beweis des Satzes 94 in seinem Zahlbericht hervor; siehe dort Satz 92. Iwasawa hat gezeigt, dass für eine unverzweigte Erweiterung K|k die Gruppe H1(G,E) isomorph ist zu der Gruppe der in K kapitulierenden Idealklassen von k [Iwa56].