Am Ende des ersten Briefes, vom 9.7.1923, lesen wir die folgende kurze Notiz:
Ich habe jetzt die allgemeinen L-Reihen mit Frobenius’schen Gruppencharakteren gefunden, die bei beliebigen Körpern dasselbe leisten wie die gewöhnlichen L-Reihen bei Abelschen …
Eigentlich gehörten die Artinschen L-Reihen nicht direkt zu dem Hauptthema der frühen Artin-Briefe, nämlich dem zweiten Ergänzungssatz. Wenn Artin dennoch diese Notiz seinem Brief an Hasse anfügte, dann kann man daraus wohl schließen, dass er seine L-Reihenarbeit für wichtig hielt und daher seinen Briefpartner unverzüglich informieren wollte. Hier also, in Hamburg im Sommer 1923, wurden die Artinschen L-Reihen konzipiert, die schnell einen prominenten Platz in der algebraischen Zahlentheorie erlangten.
Später, ab Brief Nr.30 im Jahre 1930, spielen die Artinschen L-Reihen auch in der Korrespondenz Artin-Hasse eine dominierende Rolle. Hier, im ersten Brief 1923, gibt es nur eine kleine Notiz. Dennoch ist für uns die Artinsche L-Reihenarbeit [Art23b] schon hier wichtig, weil sie nämlich direkt auf das Artinsche Reziprozitätsgesetz führt, das in der Artin-Hasse-Korrespondenz ab 1926 eine prominente Rolle spielt. Wir gehen daher etwas näher auf diese Arbeit ein.
Artin hat der Arbeit den Titel gegeben: „Über eine neue Art von L-Reihen“. Schon durch die Wahl dieses Titels wird deutlich gemacht, dass Artin seine Arbeit in das Umfeld von Heckes Arbeiten stellen wollte19 ; erst kurz zuvor hatte nämlich Hecke zwei Arbeiten publiziert mit dem Titel: „Eine neue Art von Zetafunktionen …“ [Hec18, Hec20]. Was Hecke in seinem Titel mit „Zetafunktionen“ bezeichnet, sind die heute unter dem Namen „L-Reihen mit Größencharakteren“ bekannten Funktionen. Somit hatten sowohl Hecke als nun auch Artin jeweils eine neue Art von L-Reihen vorgestellt; Hecke in Bezug auf Größencharaktere und Artin in Bezug auf Charaktere der Galoisgruppe. Beide gehören inzwischen zum Standard-Handwerkszeug des Zahlentheoretikers. Obwohl Artin in seiner Arbeit nicht direkt auf Hecke Bezug nimmt20 , so erscheint es evident, dass Artin zu dieser Arbeit durch die Begegnung mit dem Werk von Hecke angeregt worden war.
Was aber hat das Artinsche Reziprozitätsgesetz, das ja dem Gedankenkreis der Takagischen Klassenkörpertheorie angehört, mit den neuen Artinschen L-Reihen aus dem Gedankenkreis von Hecke zu tun?
Den Nachweis der fundamentalen funktionentheoretischen Eigenschaften seiner neuen L-Funktionen, wie z.Bsp, ihrer Funktionalgleichung, kann Artin in seiner L-Reihenarbeit nicht direkt führen. Er stellt jedoch aufgrund der funktionalen Eigenschaften seiner L-Reihen fest, dass es genügt, das Problem für den Fall einer abelschen Galoisgruppe zu lösen. Eine abelsche Erweiterung K|k ist nun nach Takagi der Klassenkörper zu einer wohlbestimmten Strahlklassengruppe A/H des Grundkörpers k; siehe Seite 67. Und zwar derart, dass die Galoisgruppe G isomorph ist zu A/H. Bei einem solchen Isomorphismus entsprechen die Charaktere der Galoisgruppe den Charakteren der Strahlklassengruppe. Für die Letzteren gibt es nun die klassischen, von Weber eingeführten L-Reihen, die im Falle des rationalen Grundkörpers auf Dirichlet zurückgehen, der sie für den Satz von Primzahlen in einer arithmetischen Progression geschaffen hatte. Auch für einen beliebigen Grundkörper enthalten sie wichtige Informationen über Primideale; erst einige Jahre vorher hatte Hecke die Funktionalgleichung für diese L-Reihen L(s,) zeigen können. Wenn es gelingt, die Artinschen L-Reihen mit den Dirichlet-Weberschen L-Reihen in Verbindung zu bringen, dann würden sich die funktionentheoretischen Eigenschaften der Letzteren, die bekannt sind, auf die Ersteren übertragen lassen.
Nimmt man nun einen Isomorphismus von A/H nach G, und sind dabei und einander entsprechende Charaktere von G bezw. A/H, so entsteht also die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den zugehörigen Artinschen L-Reihen L(s,) und den Dirichlet-Weberschen L(s,). Haben diese dieselben funktionentheoretischen Eigenschaften, oder ist vielleicht gar L(s,) = L(s,) in dieser Situation? Diese Frage ist nur dann sinnvoll, wenn das auf der Arithmetik beruhende Bildungsgesetz dieser Funktionen in Betracht gezogen wird. Wir gehen darauf hier nicht weiter ein, stellen nur fest, dass es natürlich auch auf den gewählten Isomorphismus A/H G ankommt. Artin stellt in [Art23b] fest, dass der Isomorphismus so zu wählen sei, dass dabei jedem unverzweigten Primideal von k sein Frobenius-Automorphismus G entspricht.21 Der Homomorphismus wird heute nach Chevalley die Artin-Abbildung genannt.
Das Artinsche Reziprozitätsgesetz ist nun gerade die Aussage, dass auf die angegebene Weise wirklich ein Isomorphismus von A/H auf G definiert wird. Siehe Teil I, Abschnitt 5, Seite 68.
Wir sehen also, dass Artin sein Reziprozitätsgesetz als einen Hilfssatz in der Theorie seiner neuen L-Reihen aufgestellt hatte. Er war sich aber von vorneherein bewusst, dass die Bedeutung seines Reziprozitätsgesetzes nicht nur „nebenbei“ als Hilfssatz zum Studium der L-Reihen liegt, sondern dass es sich um einen wichtigen Satz handelt, der die Takagische Klassenkörpertheorie in gewissem Sinne zu einem Abschluss bringt. Dies war wohl der Grund, dass Artin in seinem Brief Nr.1 vom 9.7.1923 Hasse von seiner L-Reihenarbeit berichtete, wobei er auch mitteilte, dass er
„nebenbei die Formulierung des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes in beliebigen Körpern (ohne dass Einheitswurzel im Körper liegt)“
gefunden habe. In der L-Reihenarbeit selbst schreibt Artin darüber:
Der Satz ist auch an sich von Interesse … Im relativ zyklischen Falle ist ferner unser Satz vollkommen identisch mit dem allgemeinen Reziprozitätsgesetz (falls in k die zugehörige Einheitswurzel liegt), und zwar ist die Übereinstimmung eine so offensichtliche, daß wir den Satz als die Formulierung des allgemeinen Reziprozitätsgesetzes in beliebigen Körpern (auch ohne Einheitswurzel) auffassen können, wenn uns auch der Wortlaut auf den ersten Blick etwas fremdartig anmutet.
„Fremdartig“ deshalb, weil man bislang unter „Reziprozitätsgesetz“ eine Aussage über das Jacobische Symbol der Potenzreste verstand.
Damals, also 1923, konnte Artin jedoch sein neuartiges Reziprozitätsgesetz noch nicht in voller Allgemeinheit beweisen, sondern nur in Spezialfällen, nämlich wenn einer der folgenden Fälle vorliegt:
Das Reziprozitätsgesetz im Fall 1. gehört zur klassischen algebraischen Zahlentheorie des 19.Jahrhunderts. Artin liefert dazu kurze Beweise, die jedoch nur darin bestehen, dass Bekanntes im Rahmen der neuen Sichtweise der Artin-Abbildung interpretiert wird. Beim Beweis im Fall 2. bezieht sich Artin auf die zweite Arbeit von Takagi [Tak22], der die Reziprozitätsgesetze im Rahmen der Klassenkörpertheorie zyklischer Erweiterungen von Primzahlgrad behandelt hatte. Der Beweis im Falle 3. ergibt sich aus den funktoriellen Eigenschaften des Frobenius-Automorphismus. Aber, wie gesagt, für den allgemeinen Fall hatte Artin damals noch keinen Beweis gefunden.
Von Anfang an war er jedoch so überzeugt von der Allgemeingültigkeit seines Reziprozitätsgesetzes, dass er es in seiner L-Reihenarbeit nicht als Vermutung, sondern schon als Satz formulierte (es handelt sich um den dortigen Satz 2). Dies hat in der Tat manchmal zu Missverständnissen geführt, da ein oberflächlicher Leser hätte glauben können, das Artinsche Reziprozitätsgesetz sei in der Arbeit [Art23b] schon in voller Allgemeinheit bewiesen. (Und das ist tatsächlich passiert; siehe dazu 6.5.)
Bei dieser Gelegenheit ist es vielleicht angebracht, ein weiteres mögliches Missverständnis in der L-Reihenarbeit auszuräumen. Auf den ersten Blick scheint nämlich Artin in seiner L-Reihenarbeit außer den obigen Fällen 1.-3. noch einen weiteren Fall zu behandeln, nämlich den Fall wo K|k Primzahlpotenzgrad n besitzt und k die n-ten Einheitswurzeln enthält. Diesen Fall behandelt er auf Seite 100/101 in [Art23b] in Punkt 5. Bei der Diskussion beruft er sich auf das Reziprozitätsgesetz für Potenzreste bei Takagi [Tak22]. Takagi konnte aber dort nur den Fall eines Primzahlgrades behandeln, sodass der Fall eines beliebigen Primzahlpotenzgrades bei Takagi und nun auch bei Artin offenblieb. Natürlich war sich Artin dessen bewusst; in der Tat benutzte er das Ergebnis von Punkt 5. später in der Arbeit nur in dem Fall eines Primzahlgrades. Es entsteht die Frage, weshalb Artin in Punkt 5. den Fall von Primzahlpotenzgrad mit eingeschlossen hat, ohne explizit anzumerken, dass er nur im Falle von Primzahlgrad (unter Berufung auf Takagi) zu einem Resultat führt; durch eine solche Bemerkung hätten doch Missverständnisse ausgeschlossen werden können. Wir vermuten, dass Artin seine Formulierung deshalb in dieser Form gewählt hat, um darzulegen, was er in dem oben zitierten Passus gesagt hatte, nämlich dass in dem Falle, wo die zugehörigen Einheitswurzeln in k liegen, die Übereinstimmung seines abstrakten Reziprozitätsgesetzes mit dem Reziprozitätsgesetz der Potenzereste „offensichtlich“ sei. Er wollte also seine Diskussion in Punkt 5. der Arbeit nicht als einen Beweisschritt sondern als Folgerung aus seinem Reziprozitätsgesetz verstanden wissen – ohne allerdings noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass das Letztere bislang nur im Falle eines Primzahlexponenten gesichert war.