30 18.09.1930, Brief von Artin an Hasse


Berlin, den 18. Sept. 1930

Lieber Herr Hasse!

Vielen Dank für Ihren Brief. Nach kurzem Aufenthalt in Hamburg bin ich nach Berlin gefahren7 und hier zum Arbeiten gekommen. Darüber möchte ich einiges erzählen:8

1.) Mich störte in Ihrem Bericht der Satz auf Fahne 73, Zeile 10 von oben.9 Hier haben Sie die vollständige Definition von L(s,x):

Sei p Primideal, s die zugehörige Substitution in K/k, die aber nicht eindeutig bestimmt ist, T die Trägheitsgruppe, e ihre Ordnung. Man setze:

   n    1  sum      n
x(p ) = e-   x(s t) ,
         t (- T
also gleich dem Mittel aller in Frage kommenden Werte. Dann ist
             sum   x(pn)
logL(s,x) =     ----ns
             p,n nN p
die vollständige Definition auch für Diskriminantenteiler. L(s,x) hat auch eine ganz normale Produktentwicklung der Form
          prod 
L(x,x) =    ------1------ ,
          p |E - N p-sAp |
wo Ap eine gewisse, p zugeordnete Matrix (die auch 0 sein kann) ist und nur Einheitswurzeln als char[akteristische] Wurzeln hat.

Alle Relationen und Sätze gelten jetzt von vornherein genau.

2.) Mich störte noch viel mehr die Bemerkung auf Fahne 72, Absatz nach Satz XI.10 Daher kann ich Ihnen jetzt auch die vollständige Funktionalgleichung angeben, in der lediglich die „Gausssche Summe“ W(x) mit dem Absolutbetrag 1 nicht direkt angegeben ist.

Die genaue Funktionalgleichung lautet: Es ist

M (1 - s,x) = W (x)M (s,x)    mit    |W (x)|= 1 ,
wobei zu setzen ist:
                      (                 ) s
                        dx(1)Nk(f(x,K/k)   2
M  (s,x) = G(s,x, K/k)   -----pnx(1)------  L(s,x, K/k) .
Dabei ist n der Grad, d die Diskriminante und Nk die Norm im Grundkörper k. Ferner ist:
               prod 
G(s,x,K/k) =     g(s,x,K/k, p oo ,i)
             p oo ,i
erstreckt über alle  oo -en Primideale von k und zwar ist:
                      (   s   s+ 1  )x(1)
                       G(--)G(-----)       wenn pi komplex,
                   {  (  2      2                          )
g(s,x, K/k,p oo ,i) =       s x(1)-+-x(si)  s+  1 x(1)--x(si)-
                       G( -)     2      G(-----)     2
                          2                 2
                                            wenn  pi reell.
Darin ist noch si zu erklären. pi, oo bedeutet eine reelle Bewertung von k, ein Primteiler qi, oo bedeutet eine Fortsetzung dieser Bewertung auf K. Dabei sei _O_ der grösste in K enthaltene reelle Körper (also der Zerlegungskörper von qi, oo ). Man zeigt leicht, dass K in bezug auf _O_ höchstens relativ quadratisch ist. Die Gruppe zu der _O_ gehört habe die Erzeugende si. (Dann ist also jedenfalls si2 = 1 oder sogar schon si = 1). Das ist das si. Es ist die Zerlegungsgruppe von pi, oo .

Aus dem bisherigen folgt schon, dass alle Exponenten in G(s,x) positive ganze Zahlen sind, so dass L(s,x) auch für R(s) < 0 regulär und unverzweigt ist. In R(s) < 0 hat L(s,x) nur Nullstellen angebbarer Ordnung in 0,-1,-2,-3,.

Es bleibt noch das Zeichen f(x,K/k) zu erklären, das ich den Führer des Charakters x nenne. Ich gebe ihn gleich vollständig an.

Sie werden jetzt an Heckesche Grössencharaktere denken und an die Beziehungen zur Relativdiskriminante. Natürlich geht das, es ist aber nicht erforderlich, da das im Folgenden angegebene f von vornherein die gewünschten Eigenschaften hat.

3.) Damit bin ich bei dem Teil angelangt der mich noch mehr interessiert als das Vorangehende. Es ist die Verallgemeinerung der Diskr[iminanten]-Führerformel auf beliebige Körper.11

Es sei T die Trägheitsgruppe, Vi die i-te Verzweigungsgruppe, e die Ordnung von T, pRi die von Vi. Endlich durchlaufe t die Gruppe T, ti die Gruppe Vi. Die Auswahl von T und Vi bei gegebenem p des Grundkörpers ist gleichgültig (sie hängt ja noch vom gewählten Primteiler in K ab; dabei sei K/k galoisch).

Man setze jetzt

f(x,K/k)  =
           (                                                       )
     prod     1-ex(1) - Sx(t )+ pR1x(1)-  Sx(t1)+ pR2x(1) - Sx(t2) + ...
=       p e
  p aus k
erstreckt über alle p aus dem Grundkörper k. Das ist das f(x,K/k) aus der Funktionalgleichung. Es hat folgende Eigenschaften:

a) Es ist ein ganzes Ideal aus k. Das ist der tiefste Satz und zwar der, der alles über Trivialitäten erhebt. Dass der Exponent von p grösser gleich 0 ist, ist sofort zu sehen. Das schwere ist der Nachweis, dass er ganz ist. Aber auch das ist mir gelungen.

b) Ist K1/k auch galoissch und K < K1, x aber schon in K erklärbar, dann ist

f(x,K/k) = f(x,K1/k)  .
Bereits das ist nicht ganz einfach.

c) Ist _O_ Zwischenkörper, y ein Charakter in K/_O_ und xy der induzierte Charakter, so gilt:

               y(1)
f(xy,K/k)  = D _O_/k .N_O_/k(f(y, K/_O_)) .
dabei ist D_O_/k die Relativdiskriminante (y(1) steht im Exponenten), N_O_/k das Zeichen für Relativnorm.

d) Für den Hauptchar[akter] ist f(y) = 1.12 Setzt man also für y den H[aupt]ch[arakter] ein, so folgt:

  y(1)                prod            gi
D _O_/k = f(xy, K/k) =    (f(x,K/k))
                     x
wo gi diejenigen ganzen Zahlen > 0 sind, die auf Seite 94 der L-Reihenarbeit auftreten. Das ist die Verallgemeinerung der Führerdiskr[iminanten]-Formel von der ich sprach.13

e) Ist K abelsch, so ist f(x,K/k) der Führer der Klassenkörpertheorie. Das ist leicht zu zeigen, auf diesem Satz basiert a) und ist der tiefste Schluss bei a).

f) Ist K der kleinste galoissche Körper in dem f(x,K/k) erklärbar ist, so gehen in f genau diejenigen Primideale aus k auf, die in K verzweigt sind.

g) Ist k der Körper der rationalen Zahlen, so ist f(x) = 1 dann und nur dann, wenn x der Hauptcharakter ist.

h) Ist k beliebig, f ein gegebenes Ideal, N eine Schranke für den Grad von K/k, so tritt f als Führer nur in einer beschränkten Menge von Relativkörpern mit höchstens dem Grad N auf, wenn immer der kleinste Körper genommen wird in dem f erklärbar ist.

i) Konjugiert algebraische Charaktere haben gleiche Führer.

Das ist vorläufig das Wichtigste was ich zu erzählen habe.14 Ich habe vorher viel über ln-primär gerechnet, aber nichts herausbekommen. Die Arbeit von Weddle ist mir leider unzugänglich.15 Lediglich l2-primär konnte ich schaffen. Eine Basiszahl dafür lautet

|-----------|
|1-  cl22-lc1 |
------------
Damit also a  l2-primär ist, ist notw[endig] und hinreichend:
    (      2    )a
a  =_ 2 1 - cl2 -lc1     (mod  l2c1)
  l
bei passendem a.

Aber damit habe ich weiter nichts anfangen können. Die Basis für l3-primär habe ich auch noch bestimmt, sie ist aber so kompliziert dass man ihr nichts ansehen kann.

Sie sind doch nicht böse wegen der „Einführung“ bei 1.) und 2.). Sie sind natürlich nur Scherz.

Bis zum 25.September bin ich noch in Berlin unter der Adresse

bei Jasny, Berlin-Wilmersdorf,
Sodenerstrasse 34
beim Mossestift.

Dann bis etwa 8.Oktober in

Reichenberg, Tschechoslovakei, Felgenhauerstrasse 20.

Leider habe ich Ihre Karte mit der neuen Anschrift in Hamburg vergessen. Sie kommen aber doch wohl mal in die Universität.

Mit den besten Grüssen auch an Frau Gemahlin und auch von meiner Frau

      Ihr Artin

Die neuen Ergebnisse stützen doch sehr die Vermutung der Ganzheit von L(s,x).16

Kommentare zum Brief Nr.30:

  30.1 L-Reihen
   30.1.1 Definition
   30.1.2 Funktionalgleichung
   30.1.3 Führer
   30.1.4 Emmy Noether
  30.2 ln-primär
   30.2.1 Weddle