5 Klassenkörpertheorie

Wir beabsichtigen hier nicht, auf die Geschichte der Klassenkörpertheorie einzugehen; dazu sei auf die einschlägige Literatur verwiesen, z.Bsp. [Has66], [Fre89]. Unser Ziel ist es, die wichtigsten Resultate zu nennen, auf denen Artin und Hasse aufbauten, und zwar in der Terminologie, wie sie damals gebräuchlich war und auch von Artin in den Briefen benutzt wurde. Es handelt sich also um die Takagische Klassenkörpertheorie, wie sie in dem Klassenkörperbericht von Hasse [Has26a] dargestellt wurde.

Es sei k ein algebraischer Zahlkörper endlichen Grades und m ein ganzer Divisor von k.

Es bezeichne Am die Gruppe der zu m teilerfremden Divisoren von k. Der „Hauptstrahl modulo m“ besteht aus denjenigen Hauptdivisoren (a)  (- Am, die erzeugt werden können durch ein Element a  (- K×, welches total positiv ist und der Kongruenzbedingung a  =_ 1 mod m genügt. Allgemeiner wird auch jede Untergruppe Hm < Am, die diesen Hauptstrahl enthält, als eine Strahlgruppe modulo m bezeichnet; die Faktorgruppe Am/Hm ist die zugehörige Strahlklassengruppe modulo m. Deren Ordnung hm = (Am : Hm) wird Klassenzahl genannt.

Zu jeder Strahlgruppe Hm gehört eine eindeutig bestimmte abelsche Erweiterung K|k welche dadurch gekennzeichnet ist, dass:

K heißt der Klassenkörper über k mit der zugehörigen Strahlgruppe Hm. Der Grad des Klassenkörpers ist gleich der Klassenzahl:

[K : k] = hm.
(8)

Wenn Hm gleich dem Hauptstrahl modulo m ist, so spricht man von „dem“ Strahlklassenkörper modulo m. Wenn dabei m = 1 und Hm aus allen Hauptdivisoren besteht, dann spricht man von dem Hilbertschen Klassenkörper von k. Er kann gekennzeichnet werden als der maximale unverzweigte abelsche Erweiterungskörper von k. Sein Grad ist gleich der gewöhnlichen Klassenzahl von k.

Die Tatsache, dass zu jeder Strahlgruppe ein zugehöriger Klassenkörper existiert, wird bei Hasse [Has26a] der Existenzsatz der Klassenkörpertheorie genannt. Als Umkehrsatz bezeichnet man den folgenden, auf Takagi [Tak20] zurückgehenden Satz:

Jede abelsche Erweiterung endlichen Grades von k ist Klassenkörper zu einer geeigneten Strahlgruppe Hm.

Dabei ist der Modul m so zu wählen, dass er die in K verzweigten Primstellen von k in hinreichend großer Vielfachheit enthält. Sodann kann Hm beschrieben werden als diejenige Untergruppe von Am, die erzeugt wird durch den Hauptstrahl und die Normen der Divisoren aus K. Bei Takagi wurde diese Charakterisierung von Hm in die Definition des Klassenkörpers eingebaut, und es ergab sich, dass dies gleichbedeutend ist mit der oben genannten, von Weber stammenden Definition durch die Eigenschaften (i) und (ii).

Es ist möglich, dass verschiedene Strahlgruppen Hm zu demselben Klassenkörper führen: Sei m' ein Vielfaches von m. Dann ist Am'< Am. Der Durchschnitt Hm' = Hm  /~\ Am' enthält den Hauptstrahl modulo m' und ist also eine Strahlgruppe modulo m'. Die zugehörigen Strahlklassengruppen sind dabei in natürlicher Weise isomorph: Am'/Hm' = Am/Hm. In dieser Situation sagt man, das Hm' und Hm „gleich“ sind (in Anführungszeichen). Dadurch wird eine reflexive und transitive Relation der „Gleichheit“ in der Menge der Strahlgruppen erzeugt. Und es gilt: Zwei Strahlgruppen Hm und Hm' besitzen dann und nur dann denselben Klassenkörper, wenn sie „gleich“ sind in dem angegebenen Sinne. Also:

Hauptsatz der Klassenkörpertheorie: Die abelschen Erweiterungskörper K|k entsprechen umkehrbar eindeutig den Strahlgruppen von k, wobei letztere im Sinne der oben definierten „Gleichheit“ zu nehmen sind.

Ist K Klassenkörper zur Strahlgruppe Hm, so nennt man m einen Erklärungsmodul für K. Der im Sinne der Teilbarkeit kleinste Erklärungsmodul heißt der Führer der abelschen Erweiterung K|k; jeder andere Erklärungsmodul ist ein Vielfaches dieses Führers.27 Der Führer ist Teiler der Diskriminante von K|k und enthält dieselben Primdivisoren.

Wenn es auf die Wahl des Erklärungsmoduls m von K|k nicht ankommt, so schrieb man zu Artins Zeiten einfach H statt Hm und A/H statt Am/Hm. Das ist sinnvoll, weil es für verschiedene Erklärungsmoduln m,m' einen natürlichen Isomorphismus Am/Hm = Am'/Hm' gibt.28

Auch Artin benutzt in seinen Briefen diese Terminologie: Er sagt „K sei Klassenkörper nach dem Strahl H“ und: „Die Idealklassen von k mögen nach H erklärt werden“. Manchmal spricht er auch einfach von „Idealklassen nach K“ und meint damit die Klassen derjenigen Strahlklassengruppe A/H, die zu K gehört.

Seit Weber und Takagi war bekannt, dass die Strahlklassengruppe A/H als abelsche Gruppe dieselben Invarianten besitzt wie die Galoisgruppe G des zugehörigen Klassenkörpers K|k ; das impliziert die Existenz eines Isomorphismus A/H  ~~ G. Es war jedoch – außer in Spezialfällen29 – nicht bekannt, ob und wie ein solcher Isomorphismus kanonisch herstellt werden kann.

Das Artinsche Reziprozitätsgesetz löst nun genau dieses Problem, denn es stellt auf kanonische Weise einen Isomorphismus der Strahlklassengruppe A/H mit der Galoisgruppe von K|k her.

Und zwar, wie Artin im Brief Nr.8 darlegt, wird dieser Isomorphismus dadurch gegeben, dass jedem zu m teilerfremden Primideal p der zugehörige Frobenius-Automorphismus in G zugeordnet wird. Allerdings benutzte man damals noch nicht die Terminologie „Frobenius-Automorphismus“. Artin spricht einfach von der „Substitution, die p zugeordnet ist“, und er bezeichnet sie mit sp. Definitionsgemäß ist sp dadurch gekennzeichnet, dass

        |p|
spA  =_  A  mod  p.
(9)

Hierbei bezeichnet |p|, wie schon vorher, die Anzahl der Elemente des Restklassenkörpers von p.30

Erst Hasse hat im zweiten Teil seines Klassenkörperberichts [Has30a] die Bezeichnung „Frobenius-Symbol“ eingeführt, und er hat dafür die Bezeichnung (K--)
  p geschaffen31 , in Anlehnung an die klassische, von Legendre stammende Bezeichnung (  )
  qp im Zusammenhang mit dem Gaußschen quadratischen Reziprozitätsgesetz.

Die maximale unverzweigte abelsche Erweiterung von k wird, wie schon oben gesagt, der Hilbertsche Klassenkörper von k genannt, oder auch der absolute Klassenkörper. Der zugehörige Erklärungsmodul ist m = 1, und A/H ist die gewöhnliche Idealklassengruppe von k. Das Artinsche Reziprozitätsgesetz stellt einen Isomorphismus der Galoisgruppe mit der Idealklassengruppe her. Ein wichtiges, von Hilbert formuliertes Problem war der Beweis des Hauptidealsatzes; dieser besagt, dass jedes Ideal aus k in dem absoluten Klassenkörper zu einem Hauptideal wird. Dieser Satz konnte erst 1927 durch Furtwängler auf der Grundlage des Artinschen Reziprozitätsgesetzes bewiesen werden; die dahinführende Entwicklung spiegelt sich in dem Briefwechsel Artin-Hasse wider.