Heute wird in der Literatur der russische Name in Transkription meist als „Chebotarëv“ oder „Čebotarev“ geschrieben. Wir benutzen hier jedoch die von Artin und Hasse verwendete Transkription „Tschebotareff“, die damals im deutschsprachigen Raum üblich war.45
Die von Artin zitierte Arbeit enthält den bekannten „Dichtigkeitssatz von Tschebotareff“. Der Satz handelt von dem Zerlegungsverhalten der Primdivisoren in einer galoisschen Zahlkörper-Erweiterung. Zu jeder Konjugationsklasse der Galoisgruppe, so zeigt Tschebotareff, gibt es unendlich viele Primdivisoren des Grundkörpers, deren zugehöriger Frobenius-Automorphismus in dieser Konjugationsklasse liegt. Und die Menge dieser Primdivisoren besitzt eine Dichte, die übereinstimmt mit der Dichte der Konjugationsklasse innerhalb der Galoisgruppe. Dieses Problem war im Jahre 1896 von Frobenius [Fro96] gestellt worden.46 Frobenius selbst konnte damals nur ein schwächeres Ergebnis beweisen, indem er nicht direkt die Konjugationsklassen sondern nur die Abteilungen der Galoisgruppen behandeln konnte. Die Abteilung eines Gruppenelements besteht aus den Konjugierten aller Potenzen m deren Exponent m teilerfremd ist zur Ordnung von .47
Artin hatte die Arbeit von Tschebotareff [Che26] für die Mathematischen Annalen referiert. Wir wissen das aus den Lebenserinnerungen von Tschebotareff [Tsc50]. Darin berichtet Tschebotareff, dass er im Jahre 1925 die DMV-Tagung in Danzig besucht habe, die vom 11.-17.September stattfand. Dort traf er u.a. Emmy Noether, die ihm erzählte, dass sein den Mathematischen Annalen eingereichtes Manuskript (es war am 5.9.1924 dort eingegangen) zunächst ihr (also Emmy Noether) zum Referieren übergeben worden sei, dass sie aber abgelehnt und nun Artin das Referat übernommen habe.48 Artin nahm nicht an der Danziger DMV-Tagung teil.
Nach Erscheinen der Arbeit wurde sie im „Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik“ referiert, und es wird dort angegeben, dass sie in den Mathematischen Annalen Band 95 (1925) enthalten ist. Andererseits wird das Erscheinungsjahr des Bandes 95 in der Literatur mit 1926 angegeben. Da jeder Band der Mathematischen Annalen in mehreren Heften ausgegeben wurde, so wird es wohl so gewesen sein, dass das Heft mit der Arbeit von Tschebotareff schon 1925 herausgekommen war, aber das letzte Heft des Bandes 95 erst im Jahre 1926. Jedenfalls war die Arbeit von Tschebotareff im Februar 1926, also zur Zeit der Abfassung des Artinschen Briefes, bereits erschienen, sonst hätte Artin wohl nicht gefragt, ob Hasse die Arbeit gelesen habe. Mithin hatte Artin als Referent die Arbeit schon vorher zum Druck empfohlen. Dies scheint im Widerspruch zu stehen zu der Äußerung von Artin in seinem Brief an Hasse, nämlich dass er die Arbeit „nicht verstehen“ könne. Es hat den Anschein, dass Artin die Arbeit empfohlen hatte, ohne die Details im einzelnen nachgeprüft zu haben, denn Artin fragt ja an, ob vielleicht Hasse schon die Richtigkeit bestätigen könne. Es ist natürlich auch möglich, dass sich Emmy Noether geirrt hatte, als sie Artin als Gutachter für die Tschebotareffsche Arbeit genannt hatte.
Wenn Artin schreibt: „Das Studium der Arbeit [von Tschebotareff] haben wir auf das nächste Semester verschoben …“ dann ist unter „wir“ wohl hauptsächlich das Duo Artin und Schreier zu verstehen. Wir wissen, dass Artin mit Otto Schreier in Hamburg (bis zu dessen Tod 1929) engen wissenschaftlichen Kontakt hatte. Jedenfalls erschien schon 1926, also im selben Jahr wie dieser Brief von Artin, eine Arbeit von Schreier [Sch26b] mit einem sehr vereinfachten Beweis des Dichtigkeitssatzes. Tschebotareff schreibt in seinen Erinnerungen [Tsc50] dazu:49
Bald nach dem Erscheinen meines Artikels in den Mathematischen Annalen erhielt ich die Korrektur eines Artikels eines jungen Hamburger Mathematikers, Schreier: „Über eine Arbeit von Herrn Tschebotareff“. In seinem Brief schrieb Schreier, seine Arbeit sei die Frucht eines Referats in einem Hamburger Seminar und habe das Ziel, den Beweis zu vereinfachen und damit mein Resultat für einen größeren Kreis von Mathematikern zugänglich zu machen.
Dies bestätigt, dass Artin und Schreier gemeinsam sich in einem Seminar damit beschäftigt hatten, die Arbeit von Tschebotareff zu verstehen, so wie das Artin in seinem Brief ankündigt. Sicherlich war auch van der Waerden ein Teilnehmer dieses Seminars, denn in [vdW75] schreibt er, dass er im Sommer 1926 nach Hamburg gegangen war.
Übrigens berichtet Tschebotareff in seinen Lebenserinnerungen, dass er seinen Dichtigkeitssatz schon 1922 erhalten hatte. B.N.Delone in Moskau, dem er sein Manuskript vorgelegt hatte, sei davon begeistert gewesen. Tschebotareff hatte eine erste Version seines Manuskripts schon 1922 an das Crellesche Journal geschickt, aber die Sendung kam dort offenbar nie an. Wäre die Postbeförderung von Russland nach Deutschland damals zuverlässiger gewesen, so hätte die Arbeit von Tschebotareff schon 1922 oder 1923 erscheinen können – und vielleicht hätte dann Artin schon 1923 in seiner L-Reihenarbeit einen Beweis seines Reziprozitätsgesetzes gegeben!
1924 schickte Tschebotareff dann eine neue Version seiner Arbeit an die Mathematischen Annalen, wo das Manuskript, wie bereits oben gesagt, begutachtet und danach im Jahre 1925/26 publiziert wurde.
Wir können nachvollziehen, weshalb Artin sich so sehr für die Arbeit von Tschebotareff interessiert hat. Denn im Jahre 1923, in seiner L-Reihenarbeit, hatte Artin selbst schon einen „Beweis“ des Tschebotareffschen Dichtigkeitssatzes gegeben.50 Dieser „Beweis“ war jedoch nicht vollständig, weil er auf dem Artinschen Reziprozitätsgesetz beruhte, das damals ja noch nicht allgemein bewiesen war. Der Artinsche „Beweis“ in seiner L-Reihenarbeit ist also nur der Nachweis, dass der Dichtigkeitssatz sich aus seinem (damals noch unbewiesenen) Reziprozitätsgesetz als natürliche Folgerung ergibt.
Das war durchaus sinnvoll. Schon in seinem Brief Nr.1 hatte Artin, als er Hasse über seine Konstruktion der neuartigen L-Reihen informierte, darauf hingewiesen, dass diese „bei beliebigen Körpern dasselbe leisten wie die gewöhnlichen L-Reihen bei Abelschen.“ Im abelschen Falle leisteten nun die gewöhnlichen L-Reihen mit der klassischen Methode von Dirichlet den Beweis der Dichtigkeitssätze für Primideale in Strahlklassen. Es war nun das Anliegen Artins in seiner L-Reihenarbeit, explizit vorzuführen, dass im allgemeinen galoisschen Fall seine neuen L-Reihen mit derselben klassischen Methode zu den von Frobenius vermuteten Dichtigkeitssätzen führten – sobald der Übergang von den Strahlklassen zur Galoisgruppe mit Hilfe des Artinschen Reziprozitätsgesetzes gesichert ist.
Artin hoffte nun, wie aus seinem Brief hervorgeht, durch das Studium der Tschebotareffschen Arbeit Anregungen zu erhalten, wie er sein allgemeines Reziprozitätsgesetz beweisen könne. Wie wir wissen, gelang ihm schon anderthalb Jahre später, im Juli 1927, der Beweis, wobei er eine Methode benutzte, die Tschebotareff angewandt hatte (jedoch erst nach geeigneter Modifikation; siehe 9.2).
Von Anfang an war Artin so überzeugt von der Gültigkeit seines Reziprozitätsgesetzes, dass er schon in seiner L-Reihenarbeit [Art23b] dieses Gesetz als „Satz“ formulierte, nicht etwa als Vermutung, wie es doch nahegelegen wäre, weil er damals noch keinen Beweis hatte. Dies führte offenbar manchmal zu der irrigen Annahme, dass Artin sein Reziprozitätsgesetz und damit auch den Dichtigkeitssatz in seiner L-Reihenarbeit schon bewiesen habe.
Das berichtet jedenfalls Tschebotareff in seinen Memoiren [Tsc50]. Wie bereits oben erwähnt, nahm er im Jahre 1925 an der Jahrestagung der DMV in Danzig teil; anschließend besuchte er noch einige deutsche Universitäten. In Berlin traf er I.Schur und dieser habe ihm tatsächlich gesagt, so schreibt Tschebotareff, dass sein Dichtigkeitssatz bereits von Artin bewiesen war. In Göttingen traf er Ostrowski, der ihm dasselbe sagte. In Göttingen jedoch hatte Tschebotareff Zugang zur Bibliothek und er fand dort ein Exemplar der Hamburger Abhandlungen mit der Artinschen L-Reihenarbeit; er konnte sich davon überzeugen, dass darin sein Dichtigkeitssatz zwar formuliert war, aber noch keineswegs bewiesen – denn die Gültigkeit des Artinschen Reziprozitätsgesetzes war damals ja noch nicht gesichert.
Wir haben oben gesagt. dass der Artinsche Beweis des Dichtigkeitssatzes, nachdem das Artinsche Reziprozitätsgesetz 1927 bewiesen war, als besonders „natürlich“ anzusehen ist, da er direkt die originellen Ideen von Dirichlet verfolgt, die jener zum Beweis der Primzahldichte in einer arithmetischen Progression entwickelt hatte. Allerdings ist inzwischen eine wesentliche Verkürzung des Beweises durch Deuring [Deu35b] entstanden. Deuring erkannte, dass das Problem mit Hilfe der Zerlegungsgesetze der Primideale auf den zyklischen Fall reduziert werden kann, ohne den Formalismus der Artinschen L-Reihen zu benutzen. Im zyklischen Fall benutzte er dann das Artinsche Reziprozitätsgesetz, um den Übergang von Substitutionen der Galoisgruppe zu den Strahlklassen des Körpers zu bewältigen.
Die Leistung von Tschebotareff ist darin zu sehen, dass er seinen Satz unabhängig von der Klassenkörpertheorie gewinnen konnte. In diesem Sinne ist sein Beweis als ein „einfacherer“ Zugang zum Dichtigkeitssatz anzusehen. Siehe dazu die Äußerung von S.Patterson, die wir in 9.2 (Seite 226) zitieren. Eine Kombination dieses Gedankens mit der Deuringschen Idee findet sich in dem Buch von Fried-Jarden [FJ86].51