11.2 Zum biquadratischen Reziprozitätsgesetz

Artin sagt zwar, dass die von ihm angegebenen Formeln bekannt seien, gibt aber keine Literatur dazu an. Vielleicht meinte er damit, dass man man sie aus den Eisensteinschen Arbeiten leicht herleiten könne. Wie schon erwähnt, hat Artin die Eisensteinschen Arbeiten zum Reziprozitätsgesetz sehr gut gekannt und sich auf diese mehrmals bezogen; er hatte ja auch Hasse mehrmals darauf aufmerksam gemacht. Für nicht-primäre Zahlen findet sich jedoch die von Artin angegebene Form des Umkehrfaktors explizit weder bei Eisenstein noch im Hilbertschen Zahlbericht.

Möglicherweise finden sich diese oder ähnliche Formeln in den Arbeiten von Bohniček aus den Jahren 1904-1911, in denen dieser sich mit dem biquadratischen Reziprozitätsgesetz befasst und dabei unter anderem die Hilbertschen Normenrestsymbole in Z[i] explizit bestimmt. (Diese Arbeiten sind in kroatischer Sprache verfasst und im „Jahrbuch für die Fortschritte der Mathematik“ zwar zitiert, aber nicht alle referiert.) In Lemmermeyers Buch [Lem00] wird Artins Brief in Aufgabe 6.17 erwähnt, und es wird dazu verwiesen auf Gauss’ Werke X p.200. In der Tat findet sich die von Artin im Falle des 2.Ergänzungssatzes angegebene Formel in Gauss’ zweiter Arbeit über das biquadratische Reziprozitätsgesetz [Gau89] (art. 63).

Man hat indessen den Eindruck, dass es Artin nicht bekannt war, dass dieselbe Formel schon bei Gauss steht. Wir haben keine Hinweise gefunden, dass Artin Gauss wirklich gelesen hat. Vgl. dazu [Fre04].

Wenn Artin diese Formeln als „Kuriosität“ bezeichnet, dann meint er wohl, dass sie eben nur für das biquadratische Reziprozitätsgesetz in Q(i) Bedeutung haben, also nicht direkt verallgemeinerungsfähig sind. Artin und Hasse sind gerade dabei, eine gemeinsame Arbeit zum Reziprozitätsgesetz der ln-ten Potenzreste [AH28] zu entwerfen, vgl. 17.1. Wie es Artin auch in anderen Fällen gemacht hat, hat er hier den einfachsten Spezialfall ln = 4 betrachtet und nachgesehen, was dabei herauskommt. Die klassische Version des biquadratischen Reziprozitätsgesetzes gilt nämlich nur für primäre a,b  =_ 1 mod (1 + i)3.

Wir wissen nicht, ob und wie Hasse auf diese Mitteilung reagiert hat. Interessant ist jedoch eine Tagebuch-Eintragung von Hasse unter dem Datum 1.1.1928, also ein halbes Jahr später. Der Titel dieser Eintragung lautet:

Herleitung des Gauss’schen biquadratischen Reziprozitätsgesetzes (zweiter Ergänzungssatz) aus dem allgemeinen Gesetz.

Hasse bezieht sich dabei auf die gemeinsame Arbeit mit Artin [AH28], die zwar noch nicht erschienen war, die jedoch bereits 1927 den Hamburger Abhandlungen vorgelegt und für 1928 zur Publikation vorgesehen war. Was Hasse in seinem Tagebuch durchführt, ist die Herleitung des 2.Ergänzungssatzes des klassischen biquadratischen Reziprozitätsgesetzes aus den allgemeinen Resultaten aus [AH28], die er zusammen mit Artin für den 2.Ergänzungssatz zum Reziprozitätsgesetz der ln-ten Potenzreste für eine beliebige Primzahlpotenz ln gewonnen hatte. Indem er ln = 4 setzte und den Grundkörper k = Q(i), kann er aus den allgemeinen Formeln den Wert des 4-ten Potenzrestsymbols (2)
 p4 für eine Primzahl p  =_ 1 mod 4 bestimmen und erhält daraus den Satz von Gauss:

2 ist genau dann biquadratischer Rest modulo p wenn p eine Darstellung der Form p = x2 + 64y2 gestattet.

In gewisser Weise ist das konträr zu der in Rede stehenden Briefstelle von Artin. Während Artin Freude an den expliziten Formeln für den speziellen Fall ln = 4 bekundet, möchte Hasse die klassischen Ergebnisse als Spezialfälle des allgemeinen Gesetzes für eine beliebige Primzahlpotenz ln verstanden wissen.

Wir wissen nicht, ob Hasse diese seine Tagebuch-Eintragung an Artin mitgeteilt hat. Später, im Jahre 1958, hat Hasse in einer längeren Arbeit den 2n-ten Potenzcharakter (  )
  2
  p im Körper der 2n-ten Einheitswurzeln eingehend untersucht [Has58], wobei er sich u.a. auf die gemeinsam mit Artin erhaltene Formel zum zweiten Ergänzungssatz stützte; vgl. 17.1.