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21.07.1933, Noether an Hasse



Inhalt:

Hasses Beweisansatz für Tsen. Witts Ideen zur Klassenkörpertheorie in Funktionenkörpern. Witts Dissertation. Arithmetischer Beweis des Bauerschen Satzes durch Deuring und Noethers Interpretation durch Galoismoduln. Relationen zwischen Gauss’schen Summen. DMV-Tagung in Würzburg. Gutachten. Fragebogen.


Göttingen, 21. 7. 1933

Lieber Herr Hasse!

Ich habe vorige Woche mit van der Waerden - der wie Artin über Liesche Gruppen vortrug - über Ihren Beweisansatz zu Tsen gesprochen. Er glaubt aber daß es so nicht geht, und zwar weil Sie die Hilfspunkte fest nehmen, nur die Anzahl beliebig, um trotz Bildung von Integralen zu linearen Gleichungen zu kommen. Er vermutet, daß Ganzzahligkeit der Lösung gewisse Bindungen in der Lage der Punkte verlangt (es gibt kontinuierlich viele Divisoren, aber nur abzählbar viele ganzzahlige Lösungen), sodaß also die Punkte selbst noch als unbestimmt genommen werden müßten, was vermöge der Integrale, zu transzendenten Gleichungen führt. Daß es in diesem Fall Lösungen gibt, zeigt ja gerade das Tsensche Resultat, von dem ich zugebe, daß die Abzählung mit Eliminationstheorie nicht schön ist.1) Oder sind diese Bedenken hinfällig, und haben Sie oder Chevalley doch einen arithmetischen Beweis? 2)

Davenport sagte so etwas zu Tsen.3) Seine (Tsens) Note in den Göttinger Nachrichten wird bald erscheinen; er und andere sind für Separata oder Korrekturen Ihrer Arbeiten sehr empfänglich, besonders für Annalen 104 und 107. (Meine Exemplare, 107 mit Korrektur, wandern schon.)4)

Das Tsensche Resultat läßt sich, wie Witt bemerkt hat, als Analogon zu Ihrem Zyklizitätssatz auffassen. Denn dieser läßt die (abgeschwächte) Formulierung zu: “Über dem Körper aller Einheitswurzeln zerfällt jede Algebra”.5) Und die Konstanten bei Funktionenkörpern sind ja gerade die Elemente, die überall die Ordnungszahl Null haben, also das Analogon der Einheitswurzeln. Aus dieser Bemerkung folgt unmittelbar die zyklische Darstellung der Algebren, deren Zentrum algebraischer Funktionenkörper (einer Variablen), mit Galoisfeld als Koeffizienten. Denn als Zerfällungskörper läßt sich ja eine endliche Erweiterung der Galoisfelder, ein “zyklischer Kreiskörper” nehmen. Witt hofft mit diesem Ansatz die Klassenkörpertheorie im Fall von F.K. Schmidt rein arithmetisch-hyperkomplex aufbauen zu können;6) Algebren (der Invariantensumme Null) kann er bei vorgegebenen Invarianten einfach explizit hinschreiben; der Normensatz fehlt aber noch! 7)

Witt wird diese Woche - er hat auf einmal angefangen zu arbeiten und nicht nur zu vereinfachen8) - promovieren und zwar mit dem “Riemann-Rochschen Satz im Hyperkomplexen”.9) Ich sprach wohl schon im Winter von der Fragestellung, auf die ich durch die Note von Zorn gekommen war.10) Ich dachte aber nicht daß sich einfach F. K. Schmidt11) auf “einseitige Divisoren”, die ich noch nicht hatte (aus den einseitigen Idealen verschiedener Stellen zusammengesetzt), würde übertragen lassen, was tatsächlich der Fall, nur daß das Geschlecht G der Divisionsalgebra sich von dem g des Zentrums um die Verzweigungsordnungen unterscheidet, sonst alles wörtlich! Und zwar bei beliebigem Koeffizientenbereich. Bei Galoisfeld als Koeffizienten kommt dann Funktionalgleichung der hyperkomplexen z-Funktion, Satz von den zerfallenden Algebren u.s.w. heraus. Hier hat Witt auch die Beispiele der Algebren aufgenommen.12)

Mit Hilfe der nach Tsen existierenden konstanten Zerfällungskörper hoffe ich daß man jetzt auch an algebraische Funktionen mit rationalzahligen Koeffizienten heran kann - das interessierte Artin besonders. Als Vorbereitung denke ich, erst einmal Algebren diskutieren zu lassen, wo das Zentrum algebraischer Funktionenkörper mit p-adischen Koeffizienten, so wie Tsen es augenblicklich bei reellen Koeffizienten macht.13) Mit all dem habe ich aber die neulich angedeuteten hyperkomplexen Klassenkörperüberlegungen immer noch nicht fertig aufgeschrieben: ich glaube auch daß es sich mehr um formale als um materielle Vereinfachungen handelt; mit Ersetzen transzendenter Beweise durch arithmetische muß man jetzt erst einmal Deuring - Bauerscher Satz u.s.w.14) - abwarten; Chevalley hat Ihnen das doch wohl erzählt! 15) Könnte man übrigens vorher die Existenz von Primidealen vom Relativgrad eins arithmetisch beweisen? Aus dem Bauerschen Satz folgt sie ja unmittelbar! Sie sagt zu den obigen Überlegungen aus: bildet man die Erweiterung der Gruppe J der Ideale (nicht Idealklassen) mit der galoisschen Gruppe G von K/k, so wird G isomorph und nicht nur homomorph zu der erzeugten Automorphismengruppe (denn die Primideale vom Relativgrad eins nehmen n verschiedene Werte an, spielen gewissermaßen die Rolle der primitiven Elemente).

Ich sehe auch daß ich zu Ihrer Frage von neulich - Relationen zwischen Gauss’schen Summen - noch nichts geantwortet habe. Ich weiß nur daß die angegebene Multiplikation sich als Komposition von Galoismoduln im p-ten Kreiskörper deuten läßt; die “Konstante” ym(m) muß also zugehöriges Faktorensystem sein; ersetzt man dieses durch Eins, so muß es sich um Komposition von Darstellungen der zyklischen Gruppe vom Grad (p - 1) handeln. Ob um bekannte Komposition, weiß ich nicht. Können Sie damit etwas anfangen? Oder ist Ihnen soviel auch bekannt?16)

Werden Sie autofahrend nach Würzburg kommen, und über diese Riemann-Vermutungen vortragen? 17) Ich bin mir noch nicht klar, ob ich hingehen soll. Vorerst will ich mich mit meinen Geschwistern an der Ostsee treffen: Adresse ab 31. Juli: Dierhagen bei Ribnitz, Mecklenburg.

Weyl wollte übrigens wegen des Einreichetermins der Gutachten nochmal mit dem Kurator sprechen: Er fing zufällig von seinem Gutachten an, glaubte daß das ganze bald eingereicht würde. Eventuell bekommen Sie also noch mal Nachricht. Es müßten dann aber - das war auch Weyls Ansicht - auf jeden Fall Abschriften genommen werden die Sie in der Hand behielten. Falls Ihnen das in Marburg unangenehm wäre, könnte es natürlich auch hier gemacht werden.18)

Ich habe in einem Fragebogen, den ich jetzt noch bekam, angegeben, daß Klein und Hilbert mich Frühjahr 1915 zur Vertretung der Privatdozenten nach Göttingen geholt haben. Um daraus zu schließen daß ich August 1914 schon alle Vorbedingungen erfüllt habe, bedarf es allerdings eines ziemlich imaginären Wohlwollens! Weiter habe ich so meine sozialistische (vorher 1919-22, unabhängig-soz.) Parteizugehörigkeit, bis 1924, zu Papier gebracht; weiter links habe ich übrigens nie gewählt!

Nun herzliche Grüße! Ihre Emmy Noether.
                   

Anmerkungen zum Dokument vom 21.7.1933

1Der Beweisansatz von Hasse zum Satz von Tsen ist uns nicht bekannt. Da aber Noether davon spricht, dass es “in diesem Fall Lösungen gibt”, so erscheint es wahrscheinlich, dass es sich um den zweiten Teil des Satzes von Tsen handelt, bei dem es sich um Funktionenkörper über dem reellen Grundkörper R handelt, wo es tatsächlich echte Divisionsalgebren gibt. Allerdings behandelt Tsen im wesentlichen nur den rationalen Funktionenkörper R(x). Wie es scheint, hatte Hasse für beliebige Funktionenkörper über R einen Lösungsansatz, der mit abelschen Integralen arbeitete. In diesem Zusammenhang finden wir es interessant, dass in der Arbeit Wit:1934a ebenfalls mit abelschen Integralen gearbeitet wird. Dort gibt Witt, über Tsen hinausgehend, eine explizite Beschreibung sämtlicher Divisionsalgebren über einem beliebigen Funktionenkörper einer Variablen mit Konstantenkörper R.

2Wie im vorangegangenen Brief * vom 27.6.1933 scheint Noether auch hier das Attribut “arithmetisch” als Gegensatz zu “analytisch” zu verstehen. Im vorliegenden Fall handelt es sich offenbar darum, ohne die analytische Theorie der abelschen Integrale auszukommen, und zwar (wenn unsere Interpretation in der vorangegangenen Anmerkung zutrifft) für Funktionenkörper über R. Der Fall des rationalen Funktionenkörpers R(x) wurde ja in der Dissertation von Tsen bereits mit “arithmetischen” Methoden behandelt, jetzt geht es also um Funktionenkörper höheren Geschlechts; nur für diese hat ja auch die Theorie der abelschen Integrale eine Bedeutung.

Ein Ansatz zu arithmetischen Beweisen im Sinne von Emmy Noether findet sich erst sehr viel später in den Arbeiten Gey:1966 , Gey:1977 . Die volle “Arithmetisierung”, gültig für beliebige reell abgeschlossene Konstantenkörper, wurde jedoch erst durch Einsatz der sog. semi-algebraischen Geometrie geliefert, mit deren Hilfe sich die Zusammenhangskomponenten einer reellen Kurve “arithmetisch” definieren lassen. Vgl. die Kommentare von Claus Scheiderer zu Wit:1934a , abgedruckt in den Gesammelten Abhandlungen Wit:1998 , sowie die dort angegebene Literatur.

3Wie bereits in den Anmerkungen zum Brief * vom 10. 5. 1933 gesagt, hielt sich Davenport im Sommersemester 1933 in Göttingen auf, traf sich aber häufig mit Hasse in Marburg. Chevalley war im Sommersemester 1933 in Marburg.

4Hasse’s Arbeit in Band 104 der Mathematischen Annalen Has:1931 : “Über p-adische Schiefkörper und ihre Bedeutung für die Arithmetik hyperkomplexer Zahlsysteme.” Seine Arbeit in Band 107 Has:1933 : “Die Struktur der R.Brauerschen Algebrenklassengruppe über einem algebraischen Zahlkörper. Insbesondere Begründung der Theorie des Normenrestsymbols und Herleitung des Reziprozitätsgesetzes mit nichtkommutativen Mitteln.” Offenbar hatte Noether von der letztgenannten Arbeit auch ein Korrektur-Exemplar erhalten, das sie jetzt ihren Studenten zur Verfügung gestellt hat, wo es also “wandert”.

5Das folgt in der Tat aus Hasses Resultaten in seiner Arbeit in Annalen 107 Has:1933 . Hasse benötigte diesen Satz, um einen neuen Beweis des Artinschen Reziprozitätsgesetzes mit Hilfe der Algebrentheorie zu geben.

6Unter dem “Fall von F. K. Schmidt” versteht Emmy Noether die algebraischen Funktionenkörper einer Variablen mit endlichem Konstantenkörper. Zwar hatte F. K. Schmidt schon damit begonnen, in diesem Fall die Klassenkörpertheorie zu entwickeln, allerdings nicht “arithmetisch-hyperkomplex”, wie Noether das jetzt wünscht, sondern unter Benutzung der analytischen L-Funktionen. Außerdem konnte er nur den Fall behandeln, dass die Grade der abelschen Erweiterungen nicht durch die Charakteristik p des Körpers teilbar sind. Vgl. FKS:1931a . (In einem Brief an Hasse vom 6. 12. 1926 weist F. K. Schmidt auf die Schwierigkeiten hin, die vorliegen, wenn p den Grad teilt, und er schreibt: “Diese Ausnahme hat mich bei meinen Untersuchungen nicht interessiert, und ich habe sie daher von vorneherein ausgeschlossen.”)

7Dieselbe Idee benutzte Hasse in seiner Arbeit über zyklische algebraische Funktionenkörper Has:1934b , nämlich den Beweis der Summenformel für Algebren (und damit das Artinsche Reziprozitätsgesetz) mit Hilfe des Satzes von Tsen zu führen. Hasse folgte damit dem Procedere in seiner Arbeit zum 50. Geburtstag von Emmy Noether Has:1933 ; nur ist die Situation hier viel einfacher, weil die Konstantenerweiterungen unverzweigt sind. Daraus leitet dann Hasse auch den Normensatz ab. - Für einen rationalen Funktionenkörper als Grundkörper gibt allerdings Hasse noch einen zweiten Beweis des Reziprozitätsgesetzes, der sich nicht auf den Satz von Tsen stützt. Später ist diese zweite Beweisidee auf Funktionenkörper beliebigen Geschlechts verallgemeinert worden, u.a. durch H. L. Schmid und Witt, siehe Roq:2001 .

8Witt galt schon als junger Student als ein Meister im Auffinden besonders einfacher Beweise. In Wit:1931 war sein Beweis für die Kommutativität endlicher Schiefkörper erschienen, der weniger als eine Seite beanspruchte.

9 Witt selbst sagt in seinem Vorstellungsbericht vor der Göttinger Akademie (1983): “Tief beeindruckt haben mich 1932 die berühmten 3 Vorträge von Artin über Klassenkörpertheorie. Die anschließenden Ferien verbrachte ich in Hamburg, um dort die Klassenkörpertheorie für Zahlkörper intensiv zu studieren. In den folgenden Jahren war es mein Ziel, diese Klassenkörpertheorie auf Funktionenkörper zu übertragen. Der erste Schritt führte zu meiner Promotion 1933...” Vgl. Wit:1998 . - Ina Kersten berichtet in ihrer Witt-Biographie Ker:2000 , dass Witt sich sein Dissertationsthema, nämlich die Bearbeitung eines durch Emmy Noether gestellten Problems, selbst ausgesucht hatte. Er begann am 1. 7. 1933 mit der Arbeit und lieferte die fertige Dissertation eine Woche später ab, am 7. 7. 1933. Die von Noether gestellte Aufgabe verlangte, die Methoden der Heyschen Dissertation (mit der Zornschen Ergänzung) für algebraische Funktionenkörper mit endlichem Konstantenkörper zu entwickeln. Das entsprach durchaus seinem erklärten Ziel, die Sätze der Klassenkörpertheorie auf den Fall von Funktionenkörpern zu übertragen.

10Die Note von Zorn in den Hamburger Abhandlungen Zor:1933 zeigte auf, dass nach gewissen Korrekturen und Ergänzungen die Hamburger Dissertation von Käte Hey Hey:1929 geeignet ist, einen Beweis des Lokal-Global-Prinzips für Algebren über Zahlkörpern zu liefern. Und zwar handelt es sich um einen analytischen Beweis, mit Hilfe der Zetafunktion einer Algebra. Zorn hatte seine Arbeit im Januar 1933 der Redaktion der Hamburger Abhandlungen vorgelegt. Offenbar hatte Noether schon vor der Drucklegung Kenntnis von dem Zornschen Resultat gehabt, denn sie sagt, dass sie schon im Winter von der Fragestellung gesprochen habe.

11Gemeint ist der von F. K. Schmidt aufgestellte Riemann-Rochsche Satz für Funktionenkörper einer Variablen über vollkommenen Konstantenkörper FKS:1931 .

12Die Dissertation Wit:1934 erschien in den Mathematischen Annalen.

13Algebren über Funktionenkörpern einer Variablen mit dem reellen Konstantenkörper R wurden systematisch in Wit:1934a untersucht. Der Fall p-adischer Grundkörper ist ungleich schwieriger. In Wit:1937a werden Schiefkörper über diskret bewerteten Körpern untersucht.

14Deurings arithmetischer Beweis für den Satz von Bauer beruht auf Teilaussagen der Klassenkörpertheorie und erschien im Crelleschen Journal Deu:1935 . Der Satz von Bauer besagt u.a., dass ein Galoisscher Erweiterungskörper eines algebraischen Zahlkörpers durch die Menge der in ihm zerfallenden Primdivisoren eindeutig bestimmt ist. Bauers ursprünglicher Beweis stammte aus dem Jahre 1916 und benutzt Hilfsmittel aus der analytischen Zahlentheorie. - Vgl. auch Brief * vom 13.9.1933.

15Chevalley hielt sich im Sommersemester 1933 in Marburg bei Hasse auf. Offenbar hatte er von dort aus Emmy Noether in Göttingen besucht und die neuesten mathematischen Nachrichten erfahren.

16Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte sich Hasse mit dem Analogon der Riemannschen Vermutung in Funktionenkörpern mit endlichem Konstantenkörper. Der Beweis für elliptische Körper war Hasse im Februar 1933 gelungen. Nunmehr untersuchte er, zusammen mit seinem Freund Davenport, gewisse Funktionenkörper höheren Geschlechts; heute werden sie Funktionenkörper “vom Davenport-Hasseschen Typus” genannt. Vgl. DavHas:1934 . Für diese Funktionenkörper ist es möglich, die Nullstellen der zugehörigen Zetafunktion durch Gauss’sche Summen darzustellen. Zu diesem Zweck war es notwendig, die Theorie der Gauss’schen Summen in geeigneter Weise zu verallgemeinern. Hasse deutete die sog. Jacobischen Summen als durch Gauss’sche Summen definierte Faktorensysteme, und das scheint Noether zu interessieren. Vgl. auch die diesbezügliche Anmerkung zum nächsten Brief * vom 7.9.1933.

17In Würzburg fand im September 1933 die Jahrestagung der DMV statt. Hasse sprach dort über seinen Beweis der Riemannschen Vermutung für elliptische Funktionenkörper.

18Betr. Gutachten vgl. Brief * vom 21. 6. 1933.