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10.05.1933, Noether an Hasse



Inhalt:

Noether ist “beurlaubt”. Pläne für Princeton. Noethergemeinschaft. Schilling. Chevalley. Hauptgeschlechtssatz.


Göttingen, 10. 5. 33

Lieber Herr Hasse!

Vielen herzlichen Dank für Ihren guten freundschaftlichen Brief! 1) Die Sache ist aber doch für mich sehr viel weniger schlimm als für sehr viele andere: rein äußerlich habe ich ein kleines Vermögen (ich hatte ja nie Pensionsberechtigung), sodaß ich erst einmal in Ruhe abwarten kann; im Augenblick, bis zur definitiven Entscheidung oder etwas länger, geht auch das Gehalt noch weiter.2) Dann wird wohl jetzt auch einiges von der Fakultät versucht, die Beurlaubung nicht definitiv zu machen; der Erfolg ist natürlich im Moment recht fraglich. Schließlich sagte Weyl mir, daß er schon vor ein paar Wochen, wo alles noch schwebte, nach Princeton geschrieben habe wo er immer noch Beziehungen hat. Die haben zwar wegen der Dollarkrise jetzt auch keine Entschlußkraft; aber Weyl meinte doch daß mit der Zeit sich etwas ergeben könne, zumal Veblen im vorigen Jahr viel daran lag, mich mit Flexner, dem Organisator des neuen Instituts, bekannt zu machen.3) Vielleicht kommt einmal eine sich eventuell wiederholende Gastvorlesung heraus, und im übrigen wieder Deutschland, das wäre mir natürlich das liebste. Und vielleicht kann ich Ihnen sogar auch einmal so ein Jahr Flexner-Institut verschaffen - das ist zwar Zukunftsphantasie - wir sprachen doch im Winter davon. An Ore und Deuring zu schreiben, dachte ich wenn einmal für Richard Brauer etwas nötig wird, der zwar noch Assistent ist, aber “auf dringende Empfehlung” des Kultusministers “bis auf Weiteres” nicht liest; Ore hatte ja schon einmal daran gedacht, R. Brauer für ein Jahr kommen zu lassen, aber dann waren die nötigen Mittel wieder nicht zur Verfügung.4) Dieses “bis auf Weiteres nicht lesen” ist ja hier im Institut ziemlich katastrophal; Davenport hat Ihnen vielleicht schon berichtet.5) Aber gerade darum wird ja wohl ziemlich bald eine Beruhigung kommen!6)

Ihre Ausarbeitung7) lese ich mit viel Freude; ich denke daß ich zwischendurch die “Noethergemeinschaft” in der Wohnung versammeln werde um darüber zu sprechen.8) Schilling9) schrieb mir von den neuen hyperkomplexen Ansätzen von Chevalley; es scheint das zu sein was ich mir immer gewünscht hatte, und ich bin sehr gespannt darauf!

Herzliche Grüße, Ihre Emmy Noether.

Ich schicke gleichzeitig ans Seminar den Hauptgeschl[echts]satz.10) Ihre Kritik ist voll ber[ücksichtigt].
           

Anmerkungen zum Dokument vom 10.5.1933

1Am 25. April 1933 war Emmy Noether durch ein Telegramm des Ministeriums “mit sofortiger Wirkung beurlaubt” worden - gleichzeitig mit 5 anderen Göttinger Wissenschaftlern. Somit traf Emmy Noether als eine der ersten die volle Schärfe des von der nationalsozialistischen Regierung erlassenen “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” mit seinem berüchtigten Arierparagraphen (§ 3). Wenn sich Noether jetzt für Hasses “guten freundschaftlichen Brief” bedankt, so können wir auf dem genannten Hintergrund annehmen, dass Hasse, nachdem er von Noethers “Beurlaubung” erfahren hatte, ihr sofort brieflich seine freundschaftliche Verbundenheit zum Ausdruck gebracht hat. Einzelheiten aus diesem Brief sind uns nicht bekannt. Insbesondere wissen wir nicht, ob Hasse jetzt schon seinen Plan erörtert hat, durch Vorlage von Gutachten darauf hinzuwirken, dass die Entlassung von Emmy Noether nicht permanent gemacht wird. Das kommt in späteren Briefen Noethers zur Sprache.

2Die bedrückende fianzielle Lage Emmy Noethers in Göttingen hat C. Tollmien in Tol:1990 geschildert. Demnach war Emmy Noether “in den zwanziger Jahren unter den Privatdozenten und Professoren, die in Göttingen einen Lehrauftrag erhielten, diejenige mit dem geringsten Einkommen.” Das “Gehalt”, von dem Noether hier spricht, war wohl die Vergütung für den Lehrauftrag, der in jedem Semester neu beantragt werden musste.

3Abraham Flexner war der geistige Vater und der erste Direktor des “Institute for Advanced Study” in Princeton, das Noether kurz “Flexner-Institut” nennt. - Es ist wahrscheinlich, dass Emmy Noether anlässlich des Internationalen Mathematiker-Kongresses in Zürich im September 1932 mit Veblen zusammengekommen war. Wie es scheint, war auch Flexner auf diesem Kongress, und Noether ist also dort mit Flexner zusammengetroffen.

4Øystein Ore an der Yale Universität hatte seit Jahren mit Emmy Noether engeren wissenschaftlichen Kontakt. Er hatte mit ihr zusammen die Gesammelten Werke von Dedekind Ded:1932 herausgegeben (unter Mitwirkung von Robert Fricke, der jedoch noch vor Erscheinen der Ausgabe verstorben war). Max Deuring, der “beste Schüler” von Noether (nach ihren eigenen Worten) hielt sich gerade als Stipendiat an der Yale Universität bei Ore auf.

5Davenport hatte im Sommer 1931 ein Semester lang bei der Familie Hasse gewohnt, und seit der Zeit hatte sich eine enge Freundschaft zwischen Hasse und Davenport entwickelt. Für das Sommersemester 1933 hatte Davenport ein Stipendium seines Colleges in Cambridge (Trinity) bekommen für einen Forschungsaufenthalt in Göttingen. Da der Semesterbeginn auf Mai 1933 verschoben worden war, so wohnte Davenport im April 1933 bei Hasse in Marburg, wo sie zusammen an dem Beweis der Riemannschen Vermutung für die heute so genannten “Davenport-Hasse Kurven” arbeiteten. Im Mai 1933 siedelte Davenport nach Göttingen über und wurde somit Zeuge der Auflösung des Mathematischen Instituts infolge der Nazi-Politik. An den Wochenenden pflegte Davenport nach Marburg zu Hasse zu reisen, und daher erwähnt Noether, dass Hasse vielleicht schon von Davenport über die Göttinger Zustände im einzelnen unterrichtet worden sei.

6Wie viele andere damals meinte also auch Noether, dass nach einer gewissen Zeit wieder normale Verhältnisse eintreten würden. Die katastrophalen Entwicklungen in dem nächsten Jahrzehnt hat sie nicht vorausgesehen.

7Es handelt sich um die Ausarbeitung Has:1933a der Marburger Vorlesungen Hasses aus dem Jahre 1932; vgl. den vorangehenden Brief * Noethers vom 22. 3. 1933.

8Noether durfte nicht mehr in den Gebäuden der Universität ihr Seminar abhalten. Wie wir erfahren, beabsichtigt sie nun, ihren engeren Kreis in ihrer Wohnung zusammenzurufen, um gemeinsam Hasses Vorlesungsausarbeitung durchzuarbeiten. Sie hat das schließlich auch getan. Es wird erzählt, dass ihr Schüler Ernst Witt dabei einmal in SA-Uniform erschienen war, dass das aber Emmy Noether nicht weiter gestört hat. Hierzu vgl. auch die in Ker:2000 zitierte Äußerung von Herglotz über Witt. - Der Name “Noethergemeinschaft” ist offenbar in Anlehnung an den Namen der “Notgemeinschaft” gewählt worden; vgl. Fußnote 2 zum Brief * vom 3. 8. 1932.

9O.F.G. Schilling war ein Doktorand bei Noether. Nach der Emigration von Noether hat Hasse ihn als seinen Schüler übernommen; er wurde im Jahre 1935 in Marburg promoviert mit einer Arbeit aus der Algebrentheorie. Später emigrierte Schilling nach Cambridge (England) und dann nach Princeton (USA) an das Institute for Advanced Study, wohin ihn Hasse empfohlen hatte.

10Es handelt sich um die Korrekturfahnen zur Noetherschen Arbeit über den Hauptgeschlechtssatz Noe:1933a . Noether hatte Hasse um Durchsicht und Kritik gebeten, vgl. Brief * vom 25.11.1932.