Jacques Herbrand (geb. 1908) gehörte zu den jungen französischen Mathematikern, die in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland studierten. Wie Henri Cartan berichtet:132
„We were the first generation after the war.133 Before us there was a vacuum, and it was necessary to make everything new. Some of my friends went abroad, notably to Germany, and observed what was being done there. This was the beginning of a mathematical renewal. It was due to such people as Weil, Chevalley, de Possel …The same people, responding to André Weil’s initiative, came together to form the Bourbaki group.“
Sicherlich wäre auch Herbrand unter den Gründern von Bourbaki gewesen, wenn ihn nicht das Schicksal getroffen hätte, von dem Artin in seinem Brief berichtet.
Herbrand hatte sich in seiner Thèse (Paris 1929) mit mathematischer Logik beschäftigt; in der Tat ist sein Werk unter den Logikern heute noch von Bedeutung. Im akademischen Jahr 1930/31, mit 22 Jahren, ging Herbrand als Rockefeller-Stipendiat nach Berlin, um dort bei John von Neumann zu arbeiten. Diese Wahl war von seinen Interessen in der mathematischen Logik bestimmt; insbesondere wollte er die Arbeiten von Gödel studieren. Er hatte zu dem damaligen Zeitpunkt aber auch schon über algebraische Zahlentheorie, insbesondere Klassenkörpertheorie gearbeitet; davon schrieb ja Artin schon in seinem vorangegangenen Brief Nr.38 vom 16.6.1931. Von Berlin aus fuhr Herbrand einmal nach Halle, um dort einen Kolloquiumsvortrag von Emmy Noether zu hören. Sie berichtet darüber in einem Brief vom 8.2.1931 an Hasse, in welchem sie Vorschläge für Einladungen zu dem Schiefkörper-Kongress macht, den Hasse nach Marburg für die Zeit vom 26.2.-1.3.1931 einberufen hatte. Sie schreibt:
„ Dann möchte ich auch vorschlagen, auch meinen Rockefeller-Stipendiaten für den nächsten Sommer – der jetzt bei von Neumann in Berlin ist – aufzufordern: Dr. J. Herbrand …Er kam nach Halle, und hat am meisten von allen von meinen Sachen verstanden. Er hat bis jetzt außer Logik nur Zahlentheorie gearbeitet (die er aus Ihrem „Bericht“ und Ihrer Normenresttheorie gelernt hat134 ); ich dachte an ihn nur als Zuhörer. Eventuell könnte er aber über seine durch die Einheitengruppen vermittelten ganzzahligen Darstellungen der Galoisgruppe vortragen; das ist wahrscheinlich nahe mit meinen hyperkomplexen Sachen zusammenhängend135 …Wir hatten in Halle alle einen ausgezeichneten Eindruck von ihm.“
Auch Artin gewann offenbar einen ausgezeichneten Eindruck und er erwartete noch große Dinge von ihm, wie wir in dem vorliegenden Brief lesen. Der vorangehende Brief Artins, in dem er seiner Begeisterung über die durch Chevalley und Herbrand erzielten Fortschritte Ausdruck gibt, ist vom 16.Juni 1931 datiert; im Juni war Herbrand nach Hamburg gegangen und hatte offenbar dort über seine Arbeiten zur Klassenkörpertheorie berichtet.
Den Juli 1931 verbrachte Herbrand in Göttingen bei Emmy Noether. Auch sie zeigte sich erschüttert, als sie die Nachricht von dem plötzlichen Tod von Herbrand erhalten hatte; am 24.8.1931 schreibt sie an Hasse:
„Mir geht der Tod von Herbrand nicht aus dem Sinn.“
Während seines nur wenige Monate währenden Aufenthalts in Deutschland hatte Herbrand wegen seiner hohen Begabung und seines freundlichen und aufgeschlossenen Wesens viele Freunde gefunden. Auch zu Hasse scheint er ein näheres Verhältnis gefunden zu haben. André Weil hatte am 4.8.1931 an Hasse ein Schreiben mit der Nachricht über den Tod von Herbrand geschickt:
„ Ich muss Ihnen leider eine sehr betrübende Nachricht mitteilen, die des Todes Jacques Herbrands, der vor wenigen Tagen bei einer Bergbesteigung im Dauphiné tödlich verunglückt ist. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, welchen Verlust dieser Tod für die Wissenschaft und besonders für die Zahlentheorie bedeutet. Noch kürzlich vor seinem Tode hatte er eine neue Idee gehabt, die eine weitere bedeutende Vereinfachung der Klassenkörpertheorie bringen sollte …“
Am selben Tag ging bei Hasse das Manuskript einer Arbeit ein, die Herbrand für das Crellesche Journal vorgesehen hatte. In einem Vorwort zur veröffentlichten Fassung dieser Arbeit [Her33] schrieb Hasse u.a.:
„Die letzten 6 Monate seines Lebens verbrachte er an deutschen Universitäten, in enger Berührung und lebhaftem Gedankenaustausch mit einer Reihe deutscher Mathematiker. Tief hat sich ihnen allen seine edle mit reichen wissenschaftlichen Gaben ausgestattete Persönlichkeit eingeprägt. Ein ungewöhnlich begabter Geist ist mit ihm in der Blüte seiner Jugend dahingegangen. Die schönen und wichtigen Resultate, die er auf dem Gebiete der Zahlentheorie und der mathematischen Logik gefunden, und die fruchtbaren Ideen, die er in mathematischen Gesprächen geäußert hat, berechtigten zu den größten Hoffnungen. Die mathematische Wissenschaft hat durch seinen frühzeitigen Tod einen schweren, unersetzlichen Verlust erfahren.“
In der kurzen Zeit, in der Herbrand über Zahlentheorie arbeitete, hat er 10 Arbeiten publiziert. Chevalley hat posthum einen Überblick über die Ideen seines Freundes Herbrand publiziert [Her35]136 . Einige dieser Ideen hat Chevalley in seine Thèse aufgenommen [Che33b].