Artin hat die Sorge, dass er in der Einleitung zu seiner Arbeit [Art31] einige unbedachte „phantastische Zukunftsaussichten“ formuliert hat. Sehen wir uns etwas näher an, was er in [Art31] gesagt hat. Zunächst:
„Man wird mit Recht erwarten, daß auch im Falle nicht-abelscher Gruppen unsere Ideale62 eine ausgezeichnete Rolle bei den Zerlegungsgesetzen spielen werden.“
Mit „Zerlegungsgesetze“ meint Artin die Gesetze, nach denen sich ein gegebenes Primideal des Grundkörpers im galoisschen Oberkörper zerlegt. Im abelschen Falle werden diese Zerlegungsgesetze durch das Artinsche Reziprozitätsgesetz und die Klassenkörpertheorie vermittelt. Schon in einem früheren Brief, nämlich Nr.15 vom 19.8.1927, hat Artin gesagt, dass es eines seiner Ziele sei, an die nicht-abelschen Körper heranzukommen. (Vgl. dazu 15.4.) Hier sehen wir, dass er dieses Ziel weiter verfolgt, und wir werden dasselbe auch aus späteren Briefen entnehmen können.
Zu den von ihm angesprochenen „Zerlegungssätzen“ erklärt Artin jedoch:
„Ich kann über diese Frage nichts aussagen“.
Er hat also keine eigentliche Vermutung dazu, obwohl er in dem Brief an Hasse von „Vermutungen“ spricht. Weiter:
„Man wird vielleicht hinter das Geheimnis der Zerlegungsgesetze kommen, wenn man die Ergebnisse dieser Arbeit direkt zu begründen versucht.“
Hierbei meint er mit „direkt“, dass man ohne Klassenkörpertheorie auskommen soll. Und:
„Ich kann nicht daran glauben, daß diese dazu63 wirklich erforderlich ist.“
Hier sagt also Artin öffentlich, was wir aus seinen Briefen schon wissen, nämlich dass er Beweise ohne Klassenkörpertheorie anstrebt. Das konnte später bestätigt werden. Ob das allerdings im Sinne dessen war, was Artin sich hier vorgestellt hat, sei dahingestellt. Vgl. dazu 33.4.
Mehr noch verspricht sich Artin von dem Versuch, die Determinante einer galoisschen Zahlkörpererweiterung als Gruppendeterminante zu schreiben:
„Aus einer solchen Schreibweise würde man alle Sätze dieser Arbeit ablesen können.“
Diesen Gedanken hat Emmy Noether aufgenommen. In der bereits am Schluss von 30.1.3 zitierten Arbeit [Noe32] hat sie jedenfalls im zahm-verzweigten Fall die Existenz einer lokalen Ganzheits-Normalbasis nachgewiesen. Das hat zur Folge, dass die Diskriminante in der Tat als Gruppendeterminante geschrieben werden kann. Genauer: Ist {u} eine Ganzheits-Normalbasis (wobei die Elemente der Galoisgruppe durchläuft), so ist die Diskriminante das Quadrat der Gruppendeterminante det(u-1 ). Allerdings hat sich die Vermutung von Artin, dass dadurch „alle Sätze dieser Arbeit abgelesen werden können“, nicht bewahrheitet. In der genannten Noetherschen Arbeit wird ein von Deuring stammendes Gegenbeispiel angegeben.
Daher ist uns nicht klar, was Artin gemeint haben könnte, wenn er sagt, dass die Diskriminante vielleicht als Gruppendeterminante geschrieben werden könnte. Denn eine Ganzheits-Normalbasis gibt es nach Speiser [Spe16] nur dann, wenn die Verzweigung zahm ist. Vielleicht hatte Artin an „Gruppendeterminante“ in einer anderen Struktur gedacht, nicht notwendig in der galoisschen Erweiterung selbst.
In einem aber können wir Artin aus heutiger Sicht voll und ganz zustimmen:
„Immerhin scheinen mir diese Erwägungen die Wichtigkeit der neuen Begriffe für die künftige Entwicklung der algebraischen Zahlentheorie zu zeigen.“
Denn die Artinschen L-Funktionen und die Artinschen Führer spielen eine herausragende Rolle in der algebraischen Zahlentheorie auch aus heutiger Sicht.