Artin bezeichnet es als „eines seiner Ziele, an die nicht-abelschen Körper heranzukommen“. In der Tat scheint es ja jetzt, dass er diesem Ziel einen wichtigen Schritt näher gekommen ist. Denn durch den Beweis des Reziprozitätsgesetzes ist nunmehr auch die Artinsche Theorie der L-Reihen gesichert, die er schon 1923 in seiner L-Reihenarbeit konzipiert hatte. Die Artinschen L-Reihen beziehen sich ja auf beliebige galoissche, nicht notwendig abelsche Zahlkörper und sie waren konzipiert im Hinblick auf das von Artin jetzt explizit formulierte Ziel.132
Interessant erscheint uns die Festellung Artins, dass er sich hauptsächlich im Hinblick auf dieses Ziel mit der Arithmetik der Algebren beschäftigt habe. Dabei bezieht er sich auf die zwei großen Arbeiten [Art28b], [Art28c] über Algebren. Beide Arbeiten haben eine außergewöhnliche Bedeutung erlangt, die weit über die Klassenkörpertheorie hinausgeht. Die erstgenannte Arbeit enthält die Theorie der heute so genannten „Artinschen Ringe“, während die zweitgenannte Arbeit die Idealtheorie von Maximalordnungen behandelt, insbesondere stellt sie die Brandtsche Theorie der Gruppoide von Idealen auf eine solide Grundlage – als nichtkommutatives Gegenstück zu der Idealtheorie von Maximalordnungen in Zahlkörpern im Sinne von Dedekind und Emmy Noether.133
In diesen Arbeiten hatte Artin übrigens nichts verlauten lassen über sein Ziel, damit an die nicht-abelschen Körper heranzukommen. Die Arbeiten sind zwar erst 1928 erschienen, sie sind jedoch vom Autor mit „Januar 1927“ bezw. „Februar 1927“ datiert. Das heißt, sie wurden bereits vor Abfassung dieses Briefes zur Publikation vorgelegt, und sogar bevor Artin den Beweis seines Reziprozitätsgesetzes fand. Wir wissen nicht, ob Hasse zum Zeitpunkt des vorliegenden Briefes diese Arbeiten von Artin kannte. Wir möchten das aber annehmen, da Artin die Arbeiten in seinem Brief nicht kommentiert, also wohl deren Kenntnis bei Hasse voraussetzt. Vielleicht hatte Artin an Hasse eine Kopie seines Manuskripts geschickt, oder evtl. schon einen Korrekturabzug.
Was nun die Artinschen Ausführungen im vorliegenden Brief betrifft, so geht
es um die Frage, was denn das Analogon zum Jacobischen Symbol im
Falle einer nicht-abelschen Erweiterung ist. Im abelschen Falle ist der
Frobenius-Automorphismus eines unverzweigten Primideals
eindeutig
bestimmt als Element der Galoisgruppe G. Artin schreibt dafür
, wie in seiner
Arbeit [Art27a]. Im nicht-abelschen Falle ist jedoch der Frobenius-Automorphismus
nur bis auf Konjugierte in G bestimmt, d.h. jedem Primideal
des
Grundkörpers k ist eine Konjugationsklasse in G zugeordnet. Artin schreibt
C
.134
Im abelschen Falle ist das Jacobi-Symbol
für ein Ideal
=
i
i
i
multiplikativ erklärt (alle
i sollen unverzweigt in K sein). Artin schreibt dafür
. Was aber, so fragt Artin, sollte seine Entsprechung C
im nicht-abelschen Fall
sein?
Artin lehnt sich dabei an die Formeln für die L-Reihen aus seiner L-Reihenarbeit an [Art23b]. Die von ihm hingeschriebenen Formeln sind in der Tat „unübersichtlich“, wie er schreibt.
Betrachtet man das Zentrum des Gruppenringes von G (das von den
Konjugationsklassen additiv erzeugt wird) als dual zu dem Charakterring von G,
so sind die Abbildungen CC
als dual zu den sog. Adams-Operatoren
(
)
anzusehen. Vielleicht könnte man im Umfeld der Adams-Operatoren Formeln
finden, die denen von Artin dual sind. Es lohnt aber wohl nicht, dieser Frage
nachzugehen. Denn der Ansatz von Artin ist unseres Wissens nicht mehr weiter
verfolgt worden, weder von Artin selbst noch von anderen.