Im vorangegangenen Brief Nr.29 vom 23.8.1930 hatte Artin geschrieben, dass er nach der Lektüre der Korrekturfahnen des Hasseschen Berichts angeregt wurde, über „diese Dinge“ nachzudenken, die er „lange nicht angerührt“ habe. Jetzt, nach einem Monat, berichtet er Hasse über das Ergebnis seines Nachdenkens. Wir entnehmen diesem Brief, dass es sich um die Vertiefung und Ergänzung von Artins früherer Arbeit aus dem Jahre 1923 [Art23b] über L-Reihen mit Gruppencharakteren handelt. Über diese frühere Arbeit hatte Artin im Brief Nr.1 vom 9.7.1923 berichtet.
Artins Theorie der L-Reihen im Jahr 1923 war zunächst noch nicht vollständig. Denn sie beruhte auf dem Artinschen Reziprozitätsgesetz, das damals noch nicht gesichert war. Wahrscheinlich war das der Grund dafür gewesen, dass Hasse die Artinschen L-Reihen nicht in den Teil I seines Klassenkörperberichts aufgenommen hatte. Nun aber lag der Beweis des Artinschen Reziprozitätsgesetzes vor [Art27a], und Artin hatte im Brief Nr.8 vom 17.7.1927 geschrieben: „Damit ist endlich alles aus der L-Reihenarbeit bewiesen.“ Demzufolge nahm Hasse die Theorie der Artinschen L-Reihen in den Teil II seines Berichts auf, und zwar, wie er schreibt, als
„tiefliegende Anwendung des Artinschen Reziprozitätsgesetzes auf die Theorie der galoisschen Zahlkörper“.
Bei der Lektüre der Korrekturfahnen fand also Artin seine eigene Theorie aus dem Jahre 1923 dargestellt. Und das eben hat ihn angeregt, noch einmal darüber nachzudenken und manches zu ergänzen.
Zunächst, in Abschnitt 1.) des Artinschen Briefes, geht es um die Definition der L-Reihen. Denn die 1923 in [Art23b] gegebene Definition hatte noch einen Schönheitsfehler. Sie konnte explizit nur in einer vorläufigen Form gegeben werden, weil die Beiträge der verzweigten Primstellen unbestimmt blieben und zunächst weggelassen werden mussten. Denn nur für die unverzweigten Primstellen ist die Frobenius-Substitution eindeutig bestimmt.
Es geht um eine galoissche Zahlkörper-Erweiterung K|k ; sei G die zugehörige Galoisgruppe und ein Charakter von G. Ist ein in K unverzweigtes Ideal von k und eine Fortsetzung auf K mit der Frobenius-Substitution () G, so setzt Artin () = . Dieser Wert ist unabhängig von der Auswahl der Fortsetzung von , weil die Wahl einer anderen Fortsetzung die Ersetzung von () durch eine konjugierte Substitution aus G bedeutet, und weil die Charakterwerte konjugierter Gruppenelemente übereinstimmen. Bei der Definition der Reihe log L(s,) wird dann der so definierte Wert () verwandt. Das war Artins vorläufige Definition in seiner früheren Arbeit aus dem Jahre 1923; es fehlten noch endlich viele Beiträge, die den verzweigten Primstellen entsprechen.
Um zu der endgültigen Definition zu gelangen, hatte Artin damals (also 1923) das Problem auf den abelschen Fall zurückgeführt. Das ging aber nur bis auf endlich viele Euler-Faktoren. Im abelschen Falle konnten die neuen, Artinschen L-Funktionen mit den klassischen Weberschen L-Funktionen identifiziert werden vermöge des Artinschen Reziprozitätsgesetzes (das 1923 allerdings noch nicht bewiesen war). Für die klassischen L-Funktionen war es (nach Hecke) bekannt, wie die vollständige Definition unter Einschluss der verzweigten und der unendlichen Stellen auszusehen hatte. Von da aus konnte Artin wieder auf seine neuen L-Funktionen zurückschließen, unter Benutzung sowohl der Funktionalgleichung als auch „einer bekannten Schlussweise von Hecke“, die jedoch Artin nicht weiter erläuterte, sondern wozu er auf die Heckesche Arbeit [Hec17] verwies. Es handelte sich um einen Schluss aus der Funktionentheorie der analytischen Funktionen, die einer Riemannschen Funktionalgleichung für s 1 - s genügen.
Das war in der Tat ein ziemlich indirektes Verfahren. Hasse hatte dieses Verfahren in seinen Klassenkörperbericht II übernommen (wobei er die von Artin zitierte „bekannte Schlussweise von Hecke“ genauer ausführte). Jetzt aber, in dem vorliegenden Brief, ist es Artin möglich, von vornherein auch die in K verzweigten Primstellen in die Definition einzubeziehen. Für diese ist zwar der Frobenius-Automorphismus von nicht eindeutig bestimmt, sondern nur seine Restklasse modulo der Trägheitsgruppe, und entsprechendes gilt für die Potenzen () des Frobenius-Automorphismus. Deshalb definiert Artin jetzt () als das arithmetische Mittel von auf der Restklasse von (). Mit dieser Definition kann man dieselbe Formel wie früher benutzen, jedoch nunmehr unter Einschluss auch der verzweigten Primdivisoren.17 Auch die unendlichen Primstellen kann Artin jetzt direkt einbeziehen.
Insbesondere ist es für Artin wichtig, dass diese, nunmehr endgültige Definition unabhängig ist von der Klassenkörpertheorie. Und Artin fügt hinzu: „Alle Relationen und Sätze gelten jetzt von vornherein genau.“ Damit ist gemeint, dass sie nicht nur bis auf endlich viele Euler-Faktoren gelten, wie es in [Art23b] zunächst der Fall war, sondern von vornherein ohne diesen Vorbehalt.
Aber was sind denn die „Relationen und Sätze“, die Artin meint wenn er jetzt sagt, dass sie „genau“ gelten?
Es handelt sich im wesentlichen um zwei Sätze:
Der erste Satz bezieht sich auf Erweiterung des Oberkörpers K. Ist K enthalten in einem Körper K' der ebenfalls galoissch ist über k, so ist die Galoisgruppe G von K|k eine Faktorgruppe der Gruppe G' von K'|k. Demnach kann jeder Charakter von G aufgefasst werden als ein Charakter von G'. Genauer: definiert durch Inflation von G auf G' einen Charakter von G', der gewöhnlich ebenfalls mit bezeichnet wird. Der Satz besagt nun, dass die für K|k gebildete L-Reihe L(s,) übereinstimmt mit der für K'|k gebildeten – und zwar diesmal „genau“, also nicht nur bis auf endlich viele Euler-Faktoren.
Der zweite Satz bezieht sich auf Verkleinerung des Unterkörpers k. Enthält k einen Teilkörper k0, über dem K ebenfalls galoissch ist, so ist die Galoisgruppe G von K|k eine Untergruppe der Gruppe G0 von K|k0. In dieser Situation führt jeder Charakter von G vermöge des gruppentheoretischen Induktionsprozesses zu einem Charakter * von G0.18 Nun gilt der Induktionssatz, nämlich dass die für K|k gebildete L-Reihe L(s,) übereinstimmt mit der für K|k0 zum Charakter * gebildeten L-Reihe – und zwar auch diesmal „genau“.
In seinem Brief gibt Artin keine Begründung dieser beiden Sätze; er nimmt wohl an, dass sich Hasse die Beweise selbst zusammenstellen kann. Aber in seiner Publikation [Art30] werden die Beweise dargestellt.
BEMERKUNG: Artin bezieht sich auf die Korrekturfahnen zum Hasseschen Klassenkörperbericht II. Und zwar handelt es sich in Abschnitt 1.) seines Briefes um Fahne 73. Wir kennen die Fahnen und ihre Nummern nicht; gewöhnlich enthielt eine solche „Fahne“ mehrere Seiten, aber die endgültige Paginierung erfolgte erst nach dem Seitenumbruch. Da es sich hier um die Definition der L-Reihen handelt, so liegt die Vermutung nahe, dass Artin diejenige Stelle des Klassenkörperberichts II im Sinn hatte, bei der sich die endgültige Definition der L-Reihen befindet. Dies ist in dem Absatz auf Seite 159/160 der Fall. Am Schluss dieses Absatzes, auf Seite 160, findet sich der Satz:
Eine explizite Angabe der eindeutig bestimmten Beiträge der Diskriminantenteiler zu den L(s,) ist aber bisher nicht gegeben worden.
Mit ziemlicher Sicherheit ist es diese Feststellung, die Artin „störte“, wie er schreibt.19
Wenn Artin in seinem Brief, zu Beginn des Abschnitts 1.), die Formulierung „Mich störte in Ihrem Bericht …“ und die noch schärfere Formulierung zu Beginn des Abschnitts 2.) benützt, so bedeutet das keine Kritik an Hasses Bericht. In der Tat sagt Artin am Schluss seines Briefes, dass dies nur als Scherz gemeint war. Dieser Brief von Artin ist also nicht als Kritik zu werten, sondern als eine erste Mitteilung von neuen, ergänzenden Ideen zu seiner alten Theorie der L-Reihen. Da der Hassesche Bericht zu diesem Zeitpunkt schon im Druck befindlich war, so gab es keine Möglichkeit, Artins neue Ideen jetzt noch in den Bericht aufzunehmen. In Retrospektive ist das zu bedauern, denn Hasse wünschte ja einen Bericht, der dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprach, und es ist bedauerlich, dass Artins neuer Zusatz erst so kurz vor der Drucklegung entstand. Wir lernen aus diesem Brief, wie das zustande kam: Nämlich erst die Druckfahnen des Hasseschen Berichts haben Artin veranlasst, noch einmal über die Situation nachzudenken.
Artin hat seine neuen Überlegungen in zwei Arbeiten [Art30], [Art31] publiziert,20 und seitdem sind sie zum festen Bestandteil der Theorie der Artinschen L-Reihen geworden.
In Abschnitt 2.) seines Briefes geht es Artin um die Funktionalgleichung seiner L-Reihen. In seiner früheren Arbeit [Art23b] hatte er die Funktionalgleichung durch Zurückführung auf den abelschen Fall gewonnen, und im letzteren Fall wurde auf Hecke verwiesen. Dieses Verfahren lieferte jedoch die Funktionalgleichung nur bis auf endlich viele Euler-Produkte, und es erforderte eine zusätzliche auf Hecke zurückgehende Überlegung, um zur eigentlichen Funktionalgleichung zu kommen. Hasse hatte dies Verfahren in seinem Klassenkörperbericht II wiederholt, schrieb jedoch die Funktionalgleichung in einer etwas mehr systematischen Form an, nämlich:
wobei W() eine Zahl vom Betrage 1 ist, und wobei die Funktion M(s,) aus L(s,) entsteht durch Multiplikation mit -Faktoren und einer geeigneten Exponentialfunktion. Genauer schreibt Hasse:
wobei aber die ganzzahligen Exponenten g0,g1 und die reelle positive Zahl A nicht näher spezifiziert werden konnten. Dazu sagte Hasse unter Bezugnahme auf [Art23b]:
Artin macht noch einige nähere Angaben über diese Konstanten oder vielmehr über die bei einer etwas anderen Schreibweise der Funktionalgleichung auftretenden Konstanten, ohne sie restlos zu bestimmen.
Es ist dieser Satz, der Artin „noch viel mehr“ störte, wie er in seinem Brief schreibt. Wir entnehmen aus Artins Brief, dass er nunmehr in der Lage ist, die auftretenden Konstanten (außer W()) genau zu bestimmen, weil er nämlich aufgrund seiner neuen Definition der L-Reihen in der Lage ist, die Funktionalgleichung von vornherein genau herzuleiten, ohne die genannte Heckesche ZussatzÜberlegung.
Das erfordert insbesondere eine sorgfältige Beschreibung der auftretenden -Faktoren. In der Form, die Artin in seinem Brief angibt, fällt auf, dass die -Faktoren als Produkt von Beiträgen zu den unendlichen Primstellen beschrieben werden. Dies ist unseres Wissens hier zum ersten Mal in einer solchen Form geschehen. Vielleicht ist das der Ursprung der späteren Idee, auch die Beiträge der endlichen Primstellen systematisch zu untersuchen und für jeden einzelnen solchen Beitrag eine Funktionalgleichung aufzustellen? Jedenfalls wurde das von John Tate, einem Schüler Artins, in seiner bekannten Doktorarbeit 1950 ganz allgemein im Rahmen der Chevalleyschen Theorie der Idele durchgeführt.21
An dieser Stelle erscheint es angebracht, etwas über den in der Funktionalgleichung auftretenden Faktor W() zu sagen. Artin sagt darüber nichts, außer dass |W()| = 1. Er bezeichnet W() als „Gaussche Summe“, setzt dies jedoch in Anführungszeichen. Dadurch möchte er wohl andeuten, dass bekanntlich im abelschen Falle diese Zahlen W() als geeignet normierte Gaussche Summen dargestellt werden können. In diesem Sinne sind also die Zahlen W() im allgemeinen galoisschen Fall als Verallgemeinerung der klassischen Gauss’schen Summen anzusehen, obwohl keine Summendarstellung wie im abelschen Falle bekannt ist. Heute werden die W() oft auch als „Artinsche Wurzelzahlen“ bezeichnet.
Es erscheint uns merkwürdig, dass das Problem der lokalen Struktur dieser Wurzelzahlen in der Artin-Hasse-Korrespondenz niemals angesprochen wird, obwohl, wie wir glauben, beide Partner sich der Bedeutung dieses Problems wohl bewusst waren. Viele Jahre später, im Jahre 1954, publizierte Hasse eine Arbeit [Has54], in welcher er nach einer Einführung in die Theorie der Artinschen L-Funktionen die Frage der Aufspaltung der Wurzelzahlen in lokale Komponenten W() stellt, und zwar derart, dass die Produktformel
gilt. Hasse definierte die Zahlen W(), indem er das Problem auf den abelschen Fall zurückführte, wo die Lösung bekannt war. Diese Zurückführung geschah mit Hilfe von Brauers bekanntem „Satz über induzierte Charaktere“ [Bra47a]. Allerdings hing die Zahl W() noch ab von der Art, wie der Charakter als ganzzahlige Linearkombination von zyklischen Charakteren von Untergruppen dargestellt wird. Hasse konnte nicht zeigen, dass W() unabhängig davon ist. Diese Frage musste damals offen bleiben. Erst viel später gelang es im Rahmen der Untersuchungen von Dwork [Dwo56], Langlands22 , Deligne [Del73] u.a., diese Sache zu erledigen.
In der Funktionalgleichung für L(s,), wie sie von Artin in seinem Brief angegeben wird, tritt der Term auf, wobei () ein gewisses Ideal aus k und Nk() seine Absolutnorm bedeutet. Heute wird () als „Artinscher Führer“ des Galois-Charakters bezeichnet. Der Abschnitt 3.) des Artinschen Briefes gibt die Definition und die grundlegenden Eigenschaften von () an, die beim Beweis der Funktionalgleichung entscheidend benutzt werden. Artin sagt, dass ihn dies mehr interessiert habe als das Vorangegangene. Wie wir in den folgenden Briefen sehen werden, traf dies auch auf seine Korrespondenzpartner zu.
Von den Grundeigenschaften des Führers (), die Artin aufzählt, ist der erste mit a) bezeichnete Satz der tiefste, wie er schreibt. Dazu ist nachzuweisen, dass der Exponent von eine ganze Zahl ist. Artin schreibt dazu: „Das ist mir gelungen.“ Da Artin mit solchen oder ähnlichen Aussagen in seiner Korrespondenz ziemlich sparsam umgeht, so können wir wohl daraus schließen, dass ihm der Beweis nicht ganz leicht gefallen und er deshalb auf seinen Erfolg einigermaßen stolz war. In den folgenden Briefen wird diese Ganzheitseigenschaft noch eine Rolle spielen.
Sehen wir uns den in Rede stehenden Exponenten von an:
| (44) |
Die Bezeichnungen hat Artin in seinem Brief erklärt. Damit die rechte Seite einen Sinn hat, müssen jeweils zwei Glieder in der Summe zusammengefasst werden. Die Reihe bricht nach endlichen vielen Summanden ab und stellt jedenfalls eine rationale Zahl > 0 dar. Lediglich der Satz, dass es sich um eine ganze Zahl handelt, ist nichttrivial.
Wie kam überhaupt Artin auf diese merkwürdige Definition? Er sagt dazu in diesem Brief nichts, aber im folgenden Brief Nr.31 vom 23.9.1930 heißt es:
Wir können wohl annehmen, dass das „Erraten“ darin bestand, die Gültigkeit der Eigenschaften a)-i), die er in seinem Brief formuliert, zu garantieren. Der Führer ist durch diese Eigenschaften bereits bestimmt, wie Artin in seiner Publikation [Art31] zeigt. Genauer: die Eigenschaften d) und i), zusammen mit der Homomorphie-Eigenschaft (1 + 2) = (1)(2) reichen schon aus, um () als Funktion auf den Charakteren der Galoisgruppe G von K|k und ihrer Untergruppen eindeutig zu charakterisieren. Diese Eindeutigkeitssaussage erweist sich als wichtig für Artins Beweis insbesondere von a), also der Ganzheit des Exponenten (44), so wie er ihn in seiner Arbeit [Art31] dargestellt hat.
Heute ist es üblich, die rechte Seite von (44) als inneres Produkt (,), genommen über die Trägheitsgruppe , mit dem sogenannten „Artin-Charakter“ zu schreiben. Der letztere ist definiert wie folgt:
|
während (1) so definiert ist, dass
|
Mit dieser Definition von lässt sich (44) so schreiben:
| (45) |
Definitionsgemäß ist konstant auf den Konjugationsklassen der Trägheitsgruppe, also ein „virtueller“ Charakter. Die von Artin bewiesenen Tatsache, dass (,) eine positive ganze Zahl ist für alle irreduziblen Charaktere von , bedeutet, dass wirklich der Charakter einer Matrizendarstellung von ist. Diese wird heute die „Artin-Darstellung“ genannt. Demnach ist f() die Vielfachheit. mit der die zu gehörige irreduzible Darstellung in der Artin-Darstellung vorkommt.
Bald nach Bekanntwerden der Artinschen Führer-Definition (44) hat man versucht, eine explizite Realisierung der Artin-Darstellung zu finden. Hätte man diese gewonnen, so würde sich daraus die Ganzzahligkeit von f() ohne weiteres ergeben. Vielleicht hat auch schon Artin danach gesucht? Wir haben jedoch keine Hinweise darauf gefunden.
Serre [Ser60] hat nachgewiesen, dass die Artin-Darstellung jedenfalls nicht über realisiert werden kann, wohl aber über jedem -adischen Körper für Primzahlen ≠p. Es fehlt jedoch bisher eine kanonische Konstruktion eines Darstellungsmoduls.23
Wir wissen, dass sich Emmy Noether intensiv mit dieser Frage befasste. Schon früher, also vor 1930, hatte sie ihre Arbeit über Differenten und Diskriminanten in algebraischen Zahl- und Funktionenkörpern [Noe27] publiziert. Ein Jahr später hatte sie eine zweite Arbeit über die Differente fertiggestellt, diese war jedoch zu ihren Lebzeiten nicht mehr erschienen, weil Noether sie noch überarbeiten wollte. Posthum erschien diese Arbeit 1950 im Crelleschen Journal [Noe50].
Hasse hatte einen engen Briefwechsel mit Emmy Noether. Weil er wusste, dass sie sich für Diskriminanten und Führer interessierte, hatte er ihr Kenntnis von dem Artinschen Brief Nr.30 vom 18.9.1930 gegeben. Am 10.10.1930 schrieb sie an Hasse:
„Schönen Dank für Artin! Die Sachen sind wirklich wunderschön! Mich reizen besonders die darin steckenden formalen Grundlagen; einiges Hyperkomplexe –einstweilen noch ganz unabhängig– habe ich mir überlegt…“
Wenn Noether hier von „formalen Grundlagen“ spricht, dann ist das so zu interpretieren, dass sie mit den rein rechnerischen Überlegungen Artins nicht zufrieden ist und die Führer „formal“ direkt als Ideale finden möchte. Dazu möchte sie die Theorie der Algebren benutzen (die sie stets „hyperkomplex“ nennt); es war eines der Prinzipien von Emmy Noether, dass die nichtkommutative Theorie der Algebren als ein starkes Hilfsmittel zur Untersuchung der kommutativen Zahlkörper eingesetzt werden kann. Wie es scheint, wollte Noether eine Algebra finden, die in irgendeiner Form mit der Artin-Darstellung verbunden ist, und aus deren Modul-Zerlegung sich die Artinschen Führerideale ergeben.
Insgesamt ist es Noether nicht gelungen, diese „formalen Grundlagen“ der Artinschen Führer allgemein aufzuklären, wie sie es offenbar vorhatte. Nur im Falle zahmer Verzweigung ist sie darin weitergekommen. Ihre Lösung des Problems ist enthalten in ihrer Arbeit [Noe32], die im Crelle-Festband für Hensel erschienen ist, und die weithin bekannt wurde durch ihren Beweis der Existenz von lokalen Ganzheitsbasen im zahm-verzweigten Fall.24 Ihr Hauptanliegen in dieser Arbeit war jedoch die Konstruktion der Artinschen Führerideale mit Hilfe von algebrentheoretischen Methoden. In der Tat konnte sie (immer nur im zahm-verzweigten Fall) mit ihren Methoden eine Aufspaltung der (lokalen) Diskriminante gewinnen, und zwar in ein Produkt von Beiträgen die den einzelnen Gruppencharakteren zugeordnet sind. Es gelang ihr jedoch nicht, nachzuweisen, dass diese Ideale identisch sind mit den Artinschen Führern. Das wurde erst viel später, im Jahre 1983, von Fröhlich [Frö83] gezeigt.