Hier geht es wieder um die Grundlagen der Klassenkörpertheorie, vielleicht um eine abstrakte Axiomatik, vielleicht aber auch nur um das Interesse an den Analogien zwischen Zahlkörpern und Funktionenkörpern. Mit dem „vorletzten“ Brief von Hasse, den Artin hier anspricht, meint er vielleicht einen Brief, den Hasse ihm als Antwort auf den Brief Nr.12 vom 29.7.1927 geschickt hatte, vgl. 12.1.
Wenn man nach der Klassenkörpertheorie für Funktionenkörper sucht, dann ist es ratsam, sich an der einfachsten Situationen zu orientieren, nämlich dem Fall eines rationalen Funktionenkörpers. Artin weist darauf hin, dass es über dem rationalen Funktionenkörper q(t) einen unendlichen zyklischen unverzweigten Körper gibt, nämlich die maximale Konstantenerweiterung q(t), wobei q die Vereinigung aller qn für n bedeutet. Insofern unterscheidet sich die Klassenkörpertheorie globaler Körper der Charakteristik p von der Klassenkörpertheorie der Zahlkörper.
Interessant ist, dass Artin den Körper R = q(t) als „den Körper meiner Dissertation“ bezeichnet. Dabei hatte er doch in seiner Dissertation lediglich den rationalen Funktionenkörper p(t) über dem Primkörper p betrachtet. Wenn er nun allgemein auch ein beliebiges Galoisfeld q als Konstantenkörper zulässt, so entspricht das einer Äußerung, die er kurz nach seiner Promotion, am 13.November 1921, in einem Brief an seinen akademischen Lehrer Herglotz geschrieben hatte:125
„Zunächst ist zu bemerken dass die Theorie wortwörtlich für beliebige galoissche Felder gilt falls man nur unter p nicht eine Primzahl, sondern die betreffende Primzahlpotenz auf deren Exponenten es weiter nicht ankommt, versteht. Dies ist natürlich selbstverständlich und weiter nichts neues.“
Wir ersehen aus dem vorliegenden Brief, dass Artin nach wie vor so denkt.
Weiter erscheint uns bemerkenswert, dass es Artin sozusagen als selbstverständlich ansieht, dass hier, also über dem Körper R = q(t), „die ganze Klassenkörpertheorie“ gilt. Es erscheint uns nicht plausibel, dass er damit meint, die Klassenkörpertheorie über globalen Körpern von Primzahlcharakteristik sei bereits voll gesichert. Dazu hätte nach dem damaligen Stand der Klassenkörpertheorie gehört, dass er die Theorie der -Funktion eines beliebigen globalen Körpers von Primzahlcharakteristik p entwickelt hätte, dazu die Theorie der L-Reihen mit Restklassencharakteren – abgesehen von der Durchführung der diversen Index-Berechnungen, die Artin ja einmal als „Ge-ixe“ abgetan hatte. (Siehe Brief Nr.14 vom 6.8.1927.)
All dies war zwar im Jahre 1927 bereits von F.K.Schmidt in seiner Erlanger Habilitationsschrift entwickelt worden126 , erschien aber erst viel später im Druck, nämlich im Jahre 1930, und Artin erwähnt F.K.Schmidt in seinem Brief überhaupt nicht. Wir haben kein Anzeichen dafür gefunden, dass Artin zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von den Arbeiten F.K.Schmidts gehabt hat. Aus der Korrespondenz Hasse-F.K.Schmidt ist zu entnehmen, dass Hasse die Resultate von F.K.Schmidt kannte. Wenn Hasse in einem seiner vorangegangenen Briefe Artin darüber informiert hätte, dann hätte wohl Artin sich in seinem Brief auf F.K.Schmidt bezogen und nicht gesagt, dass die Klassenkörpertheorie hier „natürlich“ gilt.
Hinzu kommt, dass F.K.Schmidt seine Theorie nur für abelsche Körpererweiterungen vom Grad / 0 mod p entwickeln konnte. (p bedeutet hier die Charakteristik.) Die Hinzunahme von zyklischen Körpern vom Grad p erfordert, dass man solche Körper durch die sog. Artin-Schreier-Gleichungen erzeugt. Die Artin-Schreier-Theorie war zwar soeben, im Jahre 1927, entdeckt worden, aber es liegen keine Anzeichen vor, dass Artin bereits zu diesem Zeitpunkt daran gedacht hatte, diese für die Klassenkörpertheorie zu verwenden. Dies wurde erst später, im Jahre 1934, durch Hasse in einer Arbeit im Crelleschen Journal durchgeführt [Has34c].
Viel wahrscheinlicher erscheint uns, dass diese Äußerung Artins als eine Zukunftsvision zu verstehen ist, ohne den Anspruch, die Einzelheiten schon durchgeführt zu haben. Artin wollte, in Beantwortung einer Hasseschen Anfrage, lediglich darauf hinweisen, dass es dabei doch wohl einige Unterschiede zum Zahlkörperfall gebe, nämlich dass es unendliche abelsche unverzweigte Erweiterungen gibt, während doch bei Zahlkörpern der Hilbertsche Klassenkörper endlichen Grad besitzt.