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12.08.1929, Noether an Hasse, Postkarte



Inhalt:

Differentensatz und Idealtheorie im Nichtkommutativen. Reduzierte und nichtreduzierte Differente. Assistentenstelle für Levitzky?


12. 8. 29 1)

Lieber Herr Hasse!

Damit kein Mißverständnis entsteht: Grell hat sich die Übertragung des Differentensatzes aufs Nichtkommutative unabhängig überlegt.2) Ich hatte ihm damals nur den kommutativen Beweis angegeben, da ich nicht wußte daß er sich nichtkommutativ interessierte. An van der Waerden schrieb ich gleich von der Möglichkeit der Übertragung. Übrigens interessierte mich dabei immer die “reduzierte” Differente (vgl. §24, 25 der Korrektur): dred-1 besteht aus allen m, sodaß Spred(mo) ganz.3) Man muß da noch Zusatzbetrachtungen über reduzierte Spuren anstellen, die ich - mit noch nicht richtigem Beweis - damals an Artin schrieb. Jetzt in der Vorlesung4) über nichtkommutative Arithmetik habe ich alles richtig vorgetragen: dred ist durch alle und nur die Primideale teilbar, die mindestens quadr[atisch] in p aufgehen. Die nichtred[uzierte] Differente, wo statt des Exponenten die einseitige Länge eingeht, ist aber auch von Interesse: die soll Grell publizieren, da er die Einzelheiten genauer durchgeführt hat. Daß bei Grell an neutraler Stelle der kommutative Differentenbeweis publiziert wird, finden Sie doch auch richtig: es ist ja zu amüsant, daß sich drei Menschen diesen Beweis überlegt haben. Sie scheinen zeitlich der erste gewesen zu sein (Artin und ich Februar).5)

Die schöne Artinsche Idealtheorie6) habe ich auch nicht-kommutativ vorgetragen; daß es geht hatte ich durch Artin u. van der Waerden gehört. Es wird viel einfacher als Krullscher Beweis.

Nun noch eine Frage! Wissen Sie nicht eine Assistentenstelle für einen außerordentlich tüchtigen und sympathischen Menschen, der aber palästinensischer Staatsangehörigkeit ist; seit 1922 in Deutschland und nichts von unangenehm jüdisch. Levitzki hat summa mit einer ringtheoretischen Begründung der Frobeniusschen “Beziehungen zwischen Charakteren von Gruppen und Untergruppen” promoviert; weit über Frobenius hinausgehend gezeigt daß die Relationen charakteristisch sind für die Unterringsklasse. Jetzt hat er Galoissche Theorie vollständig reduzierter Ringe gemacht.7)

Beste Grüße, Ihre Emmy Noether.
        

Anmerkungen zum Dokument vom 12.8.1929

1Seit dem letzten Brief * vom 14. 5. 1928 sind 15 Monate vergangen. Dazu bemerken wir, dass sich Noether im Winter 1928/29 als Gastprofessor in Moskau aufgehalten hatte, auf Einladung von Alexandroff, den sie aus Göttingen kannte. Noether traf erst Ende Mai 1929 wieder in Göttingen ein. (Sie schreibt dies auf einer Postkarte aus Moskau an Richard Brauer, datiert 19. 5. 1929).

2Einen Monat später, auf der DMV-Tagung im September 1929 in Prag trug Grell u.a. über den Differentensatz im Nichtkommutativen vor. Vgl. Gre:1930 . Nach der Noetherschen Formulierung im vorliegenden Brief sieht es so aus, als ob irgendwie der Verdacht entstanden war, dass Grell seinen Beweis von Emmy Noether bekommen hatte; dem widerspricht Noether hier entschieden, aber sie gibt zu, dass sie sich dann die Sache auch selbst überlegt hat und dies an van der Waerden geschrieben hat. Vielleicht hatte Hasse durch van der Waerden davon Kenntnis erlangt. - Grell war einer der ersten Schüler Noethers in Göttingen. Zum Zeitpunkt dieses Briefes war er mit einem Lehrauftrag in Jena. Hasse hatte an der Arbeit Grells zur allgemeinen Verzweigungstheorie offenbar regen Anteil genommen. In einer Postkarte vom 29. 11. 1929 an Hasse schreibt Grell: “Meine Verzweigung in allgemeinen Ordnungen hat unter dem Einfluß Ihrer Kritik noch zuletzt eine solche Form genommen, die eine Verbesserung meinerseits mir aussichtslos erscheinen läßt...” 1930 hat sich Grell in Jena habilitiert und Hasse war einer der Gutachter. Die Habilitationsschrift von Grell wurde offenbar nicht publiziert; erst später (1936 in der Mathematischen Zeitschrift) erschien seine Arbeit Gre:1936 zur Verzweigungstheorie der Ordnungen, jedoch nur im kommutativen Fall.

3Mit “Korrektur” sind offenbar die Korrekturbogen zur Noetherschen Arbeit “Hyperkomplexe Größen und Darstellungstheorie” Noe:1929 gemeint, die in der Mathematischen Zeitschrift erschien. Es handelt sich dabei um die von van der Waerden angefertigte Ausarbeitung der Noetherschen Vorlesung vom Wintersemester 1927/28. Die §24 und 25 dieser Arbeit enthalten die Theorie der reduzierten Spur und der reduzierten Diskriminante. Dort allerdings werden nur Diskriminanten von Algebren (hyperkomplexe Systeme) behandelt und es geht nur um das Verschwinden oder Nichtverschwinden der Diskriminante, wodurch die Existenz oder Nichtexistenz des Radikals angezeigt wird. Auf der vorliegenden Postkarte geht es nun um die Diskriminanten und die Differenten von Ordnungen in Algebren. - Vgl. dazu Noethers Brief * vom 3. 11. 1926 und die Postkarte * vom 26. 12. 1927 für den kommutativen Fall.

4Im Sommersemester 1929 las Emmy Noether “Nichtkommutative Arithmetik”, Sonnabends 11-1 Uhr.

5In Artin’s Arbeit “Zur Arithmetik hyperkomplexer Zahlen” Art:1927 werden Differente und und Diskriminante einer Ordnung definiert und untersucht. Artin erwähnt in der Einleitung jedoch, dass in seiner Diskriminante noch ausserwesentliche Teiler stecken, und er sagt: “Ich hoffe, bei anderer Gelegenheit auf eine zweckmäßigere Definition der Diskriminante zurückzukommen.” Artin hat später niemals mehr etwas dazu publiziert, es könnte aber sein, dass er sich im Februar 1929 eine solche zweckmäßigere Definition überlegt hatte, möglicherweise mit Hilfe der reduzierten Spur, und dass sich Noether darauf bezieht. - Hasse hat in seiner Arbeit “Über p-adische Schiefkörper und ihre Bedeutung für die Arithmetik hyperkomplexer Zahlsysteme” Has:1931 ebenfalls die Differente und Diskriminante von Maximalordnungen betrachtet; er führt dies auf den lokalen Fall zurück und kann demgemäß genau den Exponenten bestimmen, mit dem ein Primideal in der Differente aufgeht. Vielleicht hatte Hasse schon jetzt, also 1929, diese Resultate erhalten und sie Emmy Noether mitgeteilt ? Noether selbst hat offenbar die Diskriminantensätze im Nichtkommutativen nicht publiziert; wie aus diesem Brief hervorgeht, wollte sie das ihrem Schüler Grell überlassen. In dem Deuringschen Bericht über Algebren Deu:1935b wird bei der Diskussion von Differenten und Diskriminanten von Maximalordnungen (Kap. VI, §5-6) nur die Arbeit von Noether Noe:1927 zitiert, wo allerdings nur der kommutative Fall behandelt wird. Wahrscheinlich war es Deuring bekannt, dass Noether inzwischen den Satz auch im nichtkommutativen Fall erhalten hatte, aber er konnte dafür kein Zitat angeben. (Oder er wollte es nicht, um Grell nicht die Möglichkeit zur Publikation zu nehmen.) Außerdem wird bei Deuring auch die oben erwähnte Arbeit von Hasse Has:1931 zitiert.

6Gemeint ist Artins Fassung der van der Waerdenschen Idealtheorie beliebiger ganzabgeschlossener Integritätsbereiche; diese ist unter dem Namen “Quasigleichheit von Idealen” in den 2. Band des Lehrbuches “Moderne Algebra” vdW:1931 eingegangen. M.W. wurde bisher in der Literatur keine Verallgemeinerung der Artinschen Theorie ins Nichtkommutative gegeben; wir wissen nur aus dieser Postkarte von Emmy Noether, “dass es geht”. - Der von Noether erwähnte “Krullsche Beweis” ist uns nicht bekannt.

7Die Dissertation Levitzki erschien in Lev:1931 mit Voranzeige in Lev:1929 . Zur Galoistheorie halbeinfacher Ringe siehe Lev:1931a .