Aus dem Briefwechsel von Hasse mit Emmy Noether wissen wir, dass Hasse im Dezember 1930 eine Reihe von systematischen Vermutungen für Algebren über Zahlkörpern aufgestellt hatte. Er hatte diese Vermutungen Emmy Noether mitgeteilt und sie um ihre Meinung dazu gebeten. Auch anderen Korrespondenzpartnern hatte Hasse diese Vermutungen mitgeteilt. Hier sehen wir, dass er auch an Artin eine Version davon geschickt hatte. Insbesondere fand sich darunter die Vermutung, dass jede einfache Algebra über einem Zahlkörper zyklisch ist89 ; hierüber hatte er ja schon früher Artins Meinung eingeholt; siehe 35.2.90
Was Emmy Noether betrifft, so reagierte sie auf die Hasseschen Vermutungen zunächst negativ und glaubte, Gegenbeispiele gefunden zu haben. Sie bemerkte jedoch bald, dass sie sich dabei geirrt hatte und wurde von da an zu einer eifrigen Verfechterin der Hasseschen Vermutungen, die dann in der gemeinsamen Arbeit von Brauer, Hasse und Noether ein Jahr später bestätigt wurden. Vgl. dazu [Roq05b], [LR06].
Artin gibt, wie wir hier sehen, keine Stellungnahmen zu den Einzelheiten dieser Vermutungen; zur Frage der Zyklizität hatte er ja schon im vorangegangenen Brief seine Meinung geäußert. Er findet die Vermutungen aber „hochinteressant“ und „von bedeutendem Interesse“, und er empfiehlt die Publikation, auch wenn die grundlegenden Sätze noch nicht bewiesen seien. Wir werden dabei an Artins eigene Haltung anläßlich des von ihm konzipierten Reziprozitätsgesetzes erinnert; damals, im Jahre 1923 in seiner L-Reihenarbeit, hatte er keine Bedenken gehabt, das Reziprozitätsgesetz als heuristisches Prinzip ohne vollständigen Beweis in seine Arbeit aufzunehmen. Siehe 5.6. Es hatte damals drei Jahre gedauert, bis er den Beweis nachholen konnte; siehe Brief Nr.8.
Möglicherweise hat Hasse diese Empfehlung Artins zum Anlass genommen, seine Arbeit über die Struktur der zyklischen Algebren niederzuschreiben, die dann in den Transactions of the American Mathematical Society erschien [Has32b]. Wenn dann der Hauptsatz über die Zyklizität später bewiesen sein würde (was ja Hasse und Artin angenommen haben), dann würde diese amerikanische Arbeit ihre Bedeutung als eine vollständige arithmetische Theorie der einfachen Algebren über Zahlkörpern erhalten.91 Jedenfalls wissen wir aus anderen Quellen, dass Hasse seine amerikanische Arbeit zwischen dem 6.März und dem 29.Mai 1931 aufgeschrieben hat, also einige Wochen nach dem vorliegenden Brief von Artin.