5.3 Artins Umdrehverfahren

In dem Beweis von (12) in Hasses Arbeit [Has24b] findet sich eine Stelle, wo es heißt:

Das Symbol (  )
 la- läßt sich nun unter Verwendung einer im Prinzip von Herrn E.Artin herrührenden Schlußweise folgendermaßen bestimmen

Und am Schluss der Arbeit findet sich ein Anhang, betitelt „Anmerkung“, wo es heißt:

Herr E.Artin teilte mir kürzlich ein einfaches Rekursionsverfahren mit, das gestattet, im Falle des quadratischen Reziprozitätsgesetzes im rationalen Körper und des kubischen im Kreiskörper der dritten Einheitswurzeln den zweiten Ergänzungssatz aus dem allgemeinen Gesetz zu erschließen, und somit andeutet, dass der in der Hilbert-Furtwänglerschen Theorie stets besonders schwer zu beweisende zweite Ergänzungssatz auch im allgemeinen als nicht tieferliegend anzusehen ist, als das allgemeine Reziprozitätsgesetz und der erste Ergänzungssatz. In einer gemeinsamen Besprechung konnten wir dann dies Verfahren auf den Kreiskörper der l-ten Einheitswurzeln übertragen. Des Interesses halber teile ich die einfachen Überlegungen, denen der Hauptschluss bei meinem obigen Beweis entnommen ist, hier mit

Demgemäß stellen wir uns die Situation so vor:

Ob nun Hasse im Hamburger Kolloquium am 1.März schon einen Beweis von (12) vorgetragen hat, oder ob er in privater Diskussion lediglich seine Beweisidee erläuterte, jedenfalls hat er wohl darauf hingewiesen, dass der zweite Ergänzungssatz besonders schwer zu beweisen sei. Daraufhin hat ihm Artin erzählt, dass es in den Fällen l = 2 und l = 3 ein Verfahren gibt, das er „Umdrehverfahren“ nannte, und das es gestattet, den zweiten Ergänzungssatz (12) in einfacher Weise auf das allgemeine Reziprozitätsgesetz (10) und den ersten Ergänzungssatz (11) zurückzuführen. In der anschließenden Diskussion stellten dann beide fest, dass dieses Umdrehverfahren für einen beliebigen Primzahlexponenten l funktioniert, jedenfalls wenn es sich um den Einheitswurzelkörper k = Q(l V~ 1-) handelt. Später, bei der Anfertigung des Manuskripts [Has24b] gelang es Hasse, dieses Verfahren in seinen Beweis einzubauen, der sich ja nicht nur auf den Einheitswurzelkörper bezieht, sondern auf einen beliebigen Oberkörper k > Q( V~ l-
  1). Als er dann dieses Manuskript an Artin schickte, antwortete dieser ihm, wie wir das in dem Brief Nr.1 lesen:

Zunächst möchte ich zeigen dass man Ihre schöne Formel doch nach meiner Methode herleiten kann und zwar direkt und für beliebige Körper.

Daraus entnehmen wir:

  1. Weil Artin von „Ihrer schönen Formel“ spricht, womit er offenbar (12) meint, hatte Hasse diese Formel schon erhalten und sie Artin mitgeteilt.
  2. meine Methode“ bedeutet das Artinsche Umdrehverfahren.
  3. Wenn Artin schreibt, dass man seine Methode „direkt“ benutzen kann, so bedeutet das, dass kein Umweg über eine andere Theorie nötig ist. Vielleicht betrachtete Artin zunächst die Anwendung der Henselschen lokalen Methode, die sich bei Hasse findet, als einen solchen Umweg.
  4. für beliebige Körper“ bedeutet genauer: beliebige Zahlkörper, welche die l-ten Einheitswurzeln enthalten. Offenbar gab es vorher eine Diskussion darüber, ob das Umdrehverfahren wirklich alle solchen Körper erfasst oder nur bei dem Einheitswurzelkörper Q( V~ l-
  1) anwendbar ist.

Die Zurückführung von einem „beliebigen“ Körper k auf den Einheitswurzelkörper erledigt Artin in seinem Brief einfach durch einen Verweis auf Takagi, der das funktorielle Verhalten des Jacobischen Symbols bei änderung des Grundkörpers durch die angegebene Formel beschrieben hat. Der schlichte Verweis auf Takagi zeigt, was wir schon in der „Introduction“ erwähnt haben, dass Artin damals die Arbeiten von Takagi kannte und dies auch bei Hasse voraussetzen konnte. Artin schreibt sodann:

In Q(z) gilt aber, wie Sie ja wissen, dass durch das Umdrehverfahren (l)
 a = zS(a-lc1) beweisbar ist16

Dies zeigt, was wir schon oben aus der „Anmerkung“ in der Arbeit [Has24b] gefolgert hatten, dass Hasse und Artin sich in gemeinsamem Gespräch das Umdrehverfahren für den Einheitswurzelkörper Q( V~ --
 l1) überlegt hatten.

Worin besteht denn nun eigentlich das sogenannte Umdrehverfahren? Artin erwähnt zwar im Brief Nr.1 dieses Verfahren, führt es aber nicht direkt aus. Wir können jedoch aus Hasses Arbeit [Has24b] folgendes entnehmen:

Wie bereits gesagt, erlaubt das Verfahren, den Beweis von (12) allein unter Benutzung von (10) und (11) zu führen, ohne noch einmal auf die Details des Hilbertschen Symbols eingehen zu müssen. Dabei wird (10) nur in solchen Fällen benutzt, in denen beide a,b  =_ 1 mod l; dann verschwindet die rechte Seite von (10) und es ist also (a )
  b- = (b)
 a-, d.h. das Symbol kann „umgedreht“ werden. Daher der Name des Verfahrens. Wir wissen nicht, wer diesen Namen geprägt hatte; vielleicht war es Artin selbst gewesen.

Gegeben sei ein Term (l)
 a, wie er auf der linken Seite von (12) vorkommt. In einem ersten Schritt soll dieser zu einem Term (  )
 al' verwandelt werden, wobei a' in gewisser Weise von einfacherer Bauart ist.

Da es wegen l > 2 im Jacobischen Symbol auf ein Minuszeichen nicht ankommt, kann l durch -l ersetzt werden. Weiter kommt es im Jacobischen Symbol nur auf die Restklasse des „Zählers“ modulo „Nenner“ an, es kann also -l im Zähler durch a - l ersetzt werden. Demgemäß kann (l)
 a wie folgt transformiert werden:

(  )    (   )    (     )    (     )    (     )    (   )
  l-  =   -l- =   a---l  =   --a--   =  --l--   =   l-  .
  a       a         a      |^  a - l      a - l       a'
(13)

wobei wir die Stelle des „Umdrehens“ mit einem Pfeil  |^ gekennzeichnet haben. Inwiefern ist nun a' = a - l von einfacherer Bauart als a?

Da a  =_ 1 mod l können wir schreiben:

                                      l- 2
a = 1 + lg = 1+ l(c0 + c1z + ...+ cl- 2z  ) ;

die Koeffizienten ci von g = a -1
--l- sind ganze Zahlen in Z.17 Für a' = a - l gilt

a'=  1+  lg'=  1+ l(c -  1+ c z + ...+  c  zl-2)
                    0       1         l-2

Wenn also c0 > 0, dann besitzt g' einen kleineren Koeffizienten c'0 = c0 - 1 als g. Durch Iteration dieses Verfahrens kann dann dieser Koeffizient c0 zum Verschwinden gebracht werden. Sollte aber ursprünglich c0 < 0 gewesen sein, so führe man die ganze Konstruktion mit -l statt l durch; anstelle von (13) erhalten wir dann

( l )         (  l  )
  --  ...=  ... -----
  a       |^     a + l

und wir sehen, dass dann der Koeffizient c0 durch c0 + 1 ersetzt wird; durch Iteration wird also auch in diesem Falle der konstante Koeffizient von g zum Verschwinden gebracht. Um weiter den Koeffizienten c1 zum Verschwinden zu bringen, führt man die Umdrehungsoperation (13) für zl anstelle von l durch:

(   )         (       )   (   )
  zl  ...= ...  --zl--  =   zl
  a        |^     a ± zl      a'

und jetzt ist der Koeffizient c'1 von g' = a'-1
  l betragsmäßig um 1 kleiner als c1. Das ergibt für (l)
 a- eine Umwandlung, bei der noch Faktoren der Form (z )
  * hinzutreten:

(   )   (  ) -1(   )    (  ) -1(   )   (   )-1 (   )(   )
  l-  =   z-     zl  =   -z      zl  =   z-     -z    -l
  a       a      a       a       a'      a      a'    a'

Durch Iteration kann jetzt c1 zum Verschwinden gebracht werden, wobei endlich viele Produkte der Form (z )
  * hinzutreten. Ersetzt man z durch zi so kann auf dieselbe Weise auch der i-te Koeffizient ci zum Verschwinden gebracht werden, wobei ein Produkt von Faktoren der Form (  )
  z
  *i hinzutritt. Wenn schließlich alle Koeffizienten ci zum Verschwinden gebracht worden sind, so bleibt ( )
 l1 = 1, also

( l )   ( z)
  --  =   -- .
  a       w

wobei w in genau angebbarer Weise von a abhängt. Die rechte Seite kann mit Hilfe des ersten Ergänzungssatzes (11) ausgewertet werden, wodurch sich dann die Formel (12) des zweiten Ergänzungssatzes ergibt.

Wir haben dieses Umdrehverfahren hier etwas genauer ausgeführt, um zu erläutern, wovon Artin im ersten Brief spricht. In den folgenden vier Briefen von Artin spielt es jedoch keine Rolle mehr, weil es sich schließlich ergibt, dass die Henselschen l-adischen Methoden (Logarithmus) wohl doch übersichtlicher sind.

Übrigens war das Artinsche Umdrehverfahren nicht neu. Es findet sich in den wesentlichen Grundzügen schon in der alten Arbeit [Eis50b] von Eisenstein aus dem Jahre 1850. Diese wird sowohl bei Hasse [Has24b] als auch in der gemeinsamen Arbeit [AH25] zitiert. Offenbar war es Artin gewesen, der Hasse auf die Eisensteinsche Arbeit aufmerksam gemacht hatte, denn in einem späteren Artikel [Has29] bedankt sich Hasse bei Artin für den Hinweis auf jene Arbeit.

Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf 7.1 und 10.4.