Hier spielt Artin auf die heute so genannte „Artin - van der Waerdensche Theorie der ganzabgeschlossenen Integritätsbereiche“ an. Sie war zunächst von van der Waerden entwickelt worden, der sie 1929 in zwei aufeinanderfolgenden Artikeln in den Mathematischen Annalen publizierte [vdW29b], [vdW29a]. Als Artin die van der Waerdensche Theorie kennengelernt hatte, vereinfachte er die Beweise und stellte sie auf eine neue Grundlage.55 Darüber berichtet er nun in dem vorliegenden Brief an Hasse. Artin hat seine neue Theorie niemals publiziert; sie wurde dann von van der Waerden in den zweiten Band des Buches „Moderne Algebra“ [vdW31] aufgenommen. Dazu heißt es dort:
„Die vom Verfasser aufgestellte Theorie wurde von E.Artin auf eine schöne Form gebracht und wird in dieser Form hier zum erstenmal publiziert.“
In der Artin - van der Waerdenschen Theorie geht es darum, die klassische Idealtheorie (Zerlegung von Idealen in ein Produkt von Primidealen) auf beliebige ganzabgeschlossene Noethersche Integritätsbereiche auszudehnen. Es war bekannt, dass das nicht im wörtlichen Sinne geht; der Sachverhalt war geklärt worden durch die wegweisende Arbeit von Emmy Noether [Noe26], in welcher die heute so genannten Dedekind-Ringe eingeführt wurden. Die Idee von van der Waerden war es nun aber, für Ideale eine Äquivalenzrelation einzuführen, die „Quasigleichheit“ genannt wird, und zwar derart, dass die klassische Idealtheorie zumindest bis auf Quasigleichheit gilt.
Die heute geläufige Definition der Quasigleichheit stammt von Artin, der damit eine erhebliche begriffliche Vereinfachung erzielte. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, bei einem Integritätsbereich R nicht nur die ganzen Ideale R zu betrachten, sondern gleichzeitig auch die „gebrochenen“ Ideale, d.h. R-Moduln im Quotientenkörper von R mit x-1R für geeignetes 0≠x R. Artin definiert: Zwei Ideale , eines Integritätsbereiches R heißen quasigleich (in Zeichen: ~), wenn -1 = -1; hierbei bedeutet -1 das (gebrochene) Ideal derjenigen Elemente x aus dem Quotientenkörper von R, für welche x R.
Das Hauptergebnis wird dann (nach Artin), durch den folgenden Gruppensatz gegeben:
„Die Klassen quasigleicher Ideale ≠0 bilden zufolge der gewöhnlichen Idealmultiplikation eine Gruppe.“
Dies ist eine einfache Folge aus der vorausgesetzten Ganzabgeschlossenheit des zugrundeliegenden Integritätsbereiches R. In der Tat ist der Beweis identisch mit dem Beweis, den Emmy Noether in [Noe26] gegeben hatte, wobei Noether jedoch damals die klassische Idealtheorie im üblichen Sinne im Auge hatte und zu diesem Zweck u.a. das zusätzliche Axiom aufstellte, dass jedes Primideal ≠0 maximal ist. Dann bedeutet nämlich Quasigleichheit dasselbe wie Gleichheit.
Artin erwähnt nun in seinem Brief, dass seine Theorie auch dann anwendbar ist, wenn der Teilerkettensatz nicht gilt, wenn also der Integritätsbereich nicht Noethersch ist. Er sagt zwar, dass man dann „tatsächlich zu befriedigenden Ergebnissen“ kommt, gibt aber keine Details. In seiner Antwort hat Hasse, wie es scheint, auf die van der Waerdenschen Arbeiten verwiesen, wo doch der Teilerkettensatz vorausgesetzt wird. Und, so Hasse, gibt es wohl in den Anwendungen kaum eine interessante Situation, wo der Teilerkettensatz nicht gilt. Die Erwiderung von Artin darauf finden wir im nächsten Brief Nr.27 vom 19.5.1929. Er stellt fest, dass offenbar ein Missverständnis vorliegt. Denn seine (Artins) Überlegungen zielten ja genau auf die van der Waerdensche Theorie. Nur habe er eine neue Begründung dafür, die die Gültigkeit des Teilerkettensatzes eben nicht benötigt.
Als Ersatz für die eindeutige Primidealzerlegung gilt dabei der Verfeinerungssatz:
Wenn zwei Faktorzerlegungen (bis auf Quasigleichheit) eines ganzen Ideals gegeben sind, dann kann man die beiden Faktorzerlegungen derart weiter zerlegen, dass diese Zerlegungen bis auf die Reihenfolge der Faktoren und bis auf Quasigleichheit übereinstimmen.
Diesen Satz hat van der Waerden in seine „Algebra II“ [vdW31] übernommen, unter Bezugnahme auf Artin. Wenn der Integritätsbereich Noethersch ist, dann folgt daraus sofort der Satz von der eindeutigen Primidealzerlegung (bis auf Quasigleichheit).
In diesem Zusammenhang ist auf ein Detail aufmerksam zu machen, das manchmal übersehen wird, nämlich die Definition der ganzen Elemente und damit der Ganzabgeschlossenheit eines Integritätsbereiches R. Wir wissen nicht genau, welche Definition Artin in seinem Brief an Hasse im Sinne hatte, wir können aber annehmen, dass es dieselbe ist, die van der Waerden in Band II seines Algebra-Lehrbuches benutzt. Nämlich: ein Element a des Quotientenkörpers von R wird bei van der Waerden „ganz“ über R genannt, wenn seine sämtlichen Potenzen an in einem endlichen R-Modul liegen. Falls R Noethersch ist, dann ist diese Definition gleichbedeutend mit der heute allgemein üblichen Definition, nämlich dass a einer Polynomgleichung über R mit höchstem Koeffizienten 1 genügt. Ohne Voraussetzung des Teilerkettensatzes sind aber diese beiden Definitionen nicht immer gleichbedeutend. (Beispiele: Bewertungsringe vom Rang > 1.) Demgemäß ist in der Artin-van der Waerdenschen Theorie, wenn der Teilerkettensatz nicht vorausgesetzt wird, der Begriff der Ganzabgeschlossenheit in dem bei van der Waerden angegebenen Sinne zu verstehen56 , denn genau dies wird bei dem Beweis des Artinschen Gruppensatzes benötigt.
Im Zusammenhang mit dem Verfeinerungssatz verweisen wir auf den Artinschen Brief Nr.18 vom 5.8.1928, in welchem Artin auf die Schreiersche Verallgemeinerung des Satzes von Jordan-Hölder hinweist. Auch dort wurde zunächst nicht die Endlichkeit von Kompositionsreihen vorausgesetzt, sondern Schreier hatte allgemein gezeigt, dass je zwei Hauptreihen eine gemeinsame Verfeinerung besitzen. (Siehe 18.1.) Damals hatte Artin ganz begeistert geschrieben, das sei doch die „wahre“ Formulierung des Satzes von Jordan-Hölder. Wir können uns vorstellen, dass er auch jetzt überzeugt war, die „wahre“ Formulierung der van der Waerdenschen Theorie gefunden zu haben.
BEMERKUNG: Es gibt einen Brief von van der Waerden an Hasse vom 29.5.28 (also ein Jahr vor diesem Brief von Artin) in welchem er seine damals neue Theorie der ganzabgeschlossenen Integritätsbereiche vorstellt. Er hatte dem Brief auch eine Ausarbeitung seines Manuskripts beigefügt. Eines der Ziele, so schrieb van der Waerden an Hasse, sei es,
„unter günstigen Bedingungen vielleicht den Anfang einer Verständigung zwischen der Jungschen Richtung in der Theorie der algebraischen Flächen und der Idealtheorie anzubahnen.“
Er bat Hasse, die Arbeit
„nach Einsichtnahme an Prof.Jung weiter zu geben und eventuell diesem Aufklärung zu geben über die ihm unbekannten algebraischen Begriffe, die in dem Manuskript vorkommen.“
Hasse und Jung waren damals Kollegen an der Universität Halle. Die Jungsche Theorie der algebraischen Flächen war auf anderen Grundlagen aufgebaut als die klassische algebraische Geometrie. Van der Waerden, der sich u.a. zum Ziel gesetzt hatte, die algebraische Geometrie zu „algebraisieren“, d.h. unabhängig von funktionentheoretischen und topologischen Methoden zu entwickeln, wollte wohl einen Brückenschlag zwischen den wesentlich bewertungstheoretischen Methoden von Jung57 und den idealtheoretischen Methoden von Noether herstellen. Die Jungschen „Primdivisoren“ waren, so van der Waerden, nichts anderes als die von ihm in seiner Arbeit genannten „höheren Primideale“.
Die von van der Waerden angestrebte „Verständigung“ scheint jedoch ausgeblieben zu sein, und die Jungsche Theorie ist heute in Vergessenheit geraten.