Wir wissen nicht genau, was Artin gemeint haben könnte, wenn er Hasse dazu auffordert, seine „eigenen so schönen Untersuchungen“ nicht nur sehr kurz in seinen Bericht aufzunehmen. Der Hassesche Klassenkörperbericht II [Has30a] enthält in seinen Kapiteln 2-4 eine ausführliche Diskussion des Hasseschen Normsymbols mit vielen weitreichenden Folgerungen, sowie auch der expliziten Reziprozitätsformeln; diese Untersuchungen stammen zu einem erheblichen Teil von Hasse selbst. Hatte Hasse ursprünglich vor, diese Dinge nur kurz in seinen Bericht aufzunehmen. Ist er erst durch Artin ermuntert worden, dies ausführlicher zu tun?
Es fällt uns schwer, dies anzunehmen, denn der ganze Aufbau des Klassenkörperberichts II ist in großen Teilen direkt auf die Interessen und die Ergebnisse von Hasse ausgerichtet, nachdem es möglich geworden war, diese auf der Grundlage des Artinschen Reziprozitätsgesetzes zu behandeln. Hasse brauchte wohl nicht erst Artins Ermunterung, um dieses Programm durchzuführen.
Einen Fingerzeig, was Artin gemeint haben könnte, gibt uns der letzte Satz in diesem Abschnitt seines Briefes, wenn er sagt: „Ihr Satz über den Strahlklassenkörper ist sehr schön.“ Nun kommt in dem Klassenkörperbericht II nicht direkt ein „Satz über den Strahlklassenörper“ vor. Wir haben jedoch in der Arbeit Hasses zur komplexen Multiplikation [Has27d], die gerade ein Jahr vorher (1927) erschienen war, einen solchen Satz gefunden. Hasse beweist dort nämlich für einen imaginär-quadratischen Körper K und ein ganzes Ideal aus K, dass der zugehörige Strahlklassenkörper K erzeugt werden kann durch geeignete („singuläre“) Werte von komplexen Funktionen, genauer: der Invarianten-Funktion j(z) und der Weberschen Funktion (z) (die letztere unterscheidet sich von der Weierstraß’schen -Funktion durch einen arithmetischen Normierungsfaktor.)
Es ist hier nicht der Ort, den Hasseschen „Satz über Strahlklassenkörper“ genauer zu formulieren. Es sei nur folgendes gesagt: In Teil I des Klassenkörperberichts [Has26a] hatte Hasse berichtet, wie sich nach Weber und Takagi die Theorie der komplexen Multiplikation in die allgemeine Klassenkörpertheorie einordnet. Er stellte jedoch fest, dass es noch nicht gelungen war, die Strahlklassenkörper mit Hilfe von elliptischen Funktionen erster Stufe zu erzeugen. Aber Hasse kündigte damals schon eine Arbeit von ihm selbst an, in der dieses Desideratum durchgeführt werden sollte. Diese Arbeit erschien dann 1927 im Jubiläumsband des Crelleschen Journals [Has27d].
Artin hatte schon früh, Anfang 1926, Kenntnis von Hasses Manuskript zu dieser Arbeit erhalten. Im Brief Nr.6 vom 10.2.1926 geht Artin darauf ein und sendet an Hasse seine „herzlichen Glückwünsche zur schönen Darstellung der komplexen Multiplikation“. Vgl. 6.1. Uns erscheint es danach evident, dass Artin jetzt diese Arbeit zur komplexen Multiplikation gemeint hat, wenn er von Hasses „eigenen schönen Untersuchungen“ spricht. Wir können uns vorstellen, dass Hasse in seinem Brief an Artin genauer über sein Konzept für den Klassenkörperbericht II berichtet hatte, und dass er dabei erwähnt hatte, seine Resultate über komplexe Multiplikation nicht aufzunehmen. Und dass dies Artin zu seinen Zeilen veranlasst hatte, in denen er doch für deren Aufnahme plädierte.37
Trotz Artins Zureden hat sich jedoch Hasse nicht entschlossen, seine neue Begründung der komplexen Multiplikation in den Klassenkörperbericht II aufzunehmen. Sicherlich nicht deshalb, weil er die Resultate für unwichtig fand, oder gar aus einer gewissen Bescheidenheit, die ihm Artin zu unterstellen scheint. Sondern weil die komplexe Multiplikation nicht in das Konzept des Berichts passte. Der Untertitel des Berichtes lautet nämlich: „Teil II: Reziprozitätsgesetz“. Und die komplexe Multiplikation ist zwar als ein besonderes, interessantes Kapitel der Klassenkörpertheorie anzusehen, aber eben nicht als Ausfluss des Artinschen Reziprozitätsgesetzes.