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19.12.1930, Noether an Hasse



Inhalt:

Noethers negative Reaktion auf Hasses Vermutungen zur Algebrentheorie über Zahlkörpern, insbesondere über zyklische Zerfällungskörper. Irrtümlicher Hinweis auf Albert. Heckesche ideale Zahlen im verschränkten Produkt des absoluten Klassenkörpers mit seiner Gruppe?


Göttingen, 19. 12. 30

Lieber Herr Hasse!

Ja, es ist jammerschade, daß all Ihre schönen Vermutungen nur in der Luft schweben und nicht mit festen Füßen auf der Erde stehen: denn ein Teil von ihnen - wieviel übersehe ich nicht - stürzt rettungslos ab durch Gegenbeispiele in einer ganz neuen amerikanischen Arbeit: Transactions of the Amer. Math. Society, Bd. 32; von Albert. Daraus folgt zunächst, daß der Exponent wirklich kleiner sein kann als der Index, schon beim rationalen Zahlkörper als Zentrum; und damit also weiter daß Ihre Formentheorie sich nicht auf Formen höheren Grades übertragen läßt. Ob Ihre Vermutung mit dem zyklischen Zerfällungskörper gilt, wird zum mindesten zweifelhaft.1)

Genauer handelt es sich um folgendes: Albert hat ja in Bd. 312) bewiesen, daß alle Schiefkörper vom Index 4, mit rationalem Zentrum - falls solche existieren - direkte Produkte von zwei Schiefkörpern vom Index zwei werden; woraus unmittelbar folgt, daß sie Exponenten zwei haben, in genauer Analogie mit dem Brauerschen Beispiel. In Bd. 32 3) gibt er nun, Seite 188, wirklich zahlenmäßig ein Beispiel eines solchen Schiefkörpers an; also n = 4, q = 2. In diesen läßt sich weiter ein zyklischer Körper 4. Grades einbetten, sodaß also schon das Quadrat von b Norm wird; Dickson ist hinreichend, aber nicht notwendig.4)

Weiter gibt er notwendige und hinreichende Bedingungen an, daß für n = 4 kein zyklischer Einbettungskörper 4. Grades existiert; ob aber hier rationalzahlige Lösungen existieren, wird nicht gesagt. Sehr möglich können Sie aber die erste, algebraische, d.h. formentheoretische Form der Bedingungen leicht übersehen, und sich ein Gegenbeispiel konstruieren, dessen Existenz mir garnicht ausgeschlossen erscheint.

Weiteres Zahlenmaterial findet sich in der in der Einleitung zitierten Arbeit von Archibald, ganz am Schluß. Archibald ist dieses Semester hier; und daher rührt auch meine amerikanische Literaturkenntnis. Ob aber unter seinen Systemen nullteilerfreie auftreten, weiß er nicht.5)

Wenn auch Ihr zyklischer Zerfällungskörper zunichte geworden ist, so lassen Sie mich das wissen!

Ich will jetzt den (absoluten) Klassenkörper verschränkt mit seiner Gruppe multiplizieren: dann bekomme ich in dem durch die Gruppe erzeugten auflösbaren Körper, bei geeigneter Wahl des Faktorensystems - der den zyklischen Faktoren der Gruppe entsprechenden si = siki - die Heckeschen idealen Zahlen; die si brauchen nur gleich der ki-ten Potenz der zugeordneten Idealklasse gesetzt zu werden. In die Vieldeutigkeit der si, bedingt durch die Einheiten, und die entsprechenden Vieldeutigkeiten der Schiefkörper, müssen dann Einheiten, Hauptgeschlecht u.s.w. hineinspielen! Das treibt aber einstweilen im Nebel! 6)

Beste Grüße, Ihre Emmy Noether.
       

Anmerkungen zum Dokument vom 19.12.1930

1Offenbar hatte Hasse an Noether eine Reihe von systematisch begründeten Vermutungen zur Algebrentheorie über Zahlkörpern geschrieben. Wir wissen nicht genau, welche Vermutungen das waren. Aber aus der Noetherschen Antwort wissen wir, dass zumindest folgende drei Vermutungen dabei waren: (1) der Index einer einfachen Algebra ist gleich ihrem Exponenten. (2) Das Lokal-Global-Prinzip für einfache Algebren. (Noether spricht von “Formentheorie” in Anlehnung an Hasses Theorie der quadratischen Formen, für die er ja ein Lokal-Global-Prinzip in seiner Dissertation bewiesen hatte; hier sind offenbar die Normformen von einfachen Algebren gemeint.) (3) Jede einfache Algebra besitzt einen zyklischen Zerfällungskörper. Somit ist dieser Noether-Brief ein wichtiges historisches Dokument, können wir doch daraus entnehmen, wann ungefähr Hasse diese Vermutungen explizit formuliert hatte, nämlich im Dezember 1930. Dass Noether einen Teil der Hasseschen Vermutungen als durch ein Gegenbeispiel widerlegt bezeichnet, war ein Irrtum; Hasse hatte sie sogleich darauf aufmerksam gemacht, und im nächsten Brief * vom 24. Dezember stellt sie das auch selbst fest. - Den Hinweis auf die Möglichkeit eines Lokal-Global-Prinzips für Algebren hatte Hasse übrigens durch Emmy Noether erhalten: Während eines der häufigen Besuche Hasses in Göttingen machten beide einen Spaziergang auf den nahegelegenen Berg Hanstein, und dabei berichtete Hasse ihr, dass das Lokal-Global-Prinzip für Normen zwar bei zyklischen Körpern gilt, nicht aber im allgemein abelschen Falle. Daraufhin wies ihn Noether darauf hin, dass man statt Normen die zerfallenden Faktorsysteme betrachten solle. Wie es scheint, hatte das den Anstoss zur Formulierung des Lokal-Global-Prinzips für Algebren gegeben. Vgl. dazu Noethers Brief * vom 12. 11. 1931, in dem sich Noether auf “Hanstein” bezieht.

2Gemeint ist Band 31 der Transactions of the American Mathematical Society (1929) mit der Arbeit Alb:1929 . (Achtung: In Band 31 der Annals of Mathematics (1930) findet sich ebenfalls eine Arbeit von Albert Alb:1930 , mit einem ähnlichen Thema, nämlich Quaternionenalgebren über einem quadratischen Zahlkörper. Noether aber meint offenbar die erstgenannte Arbeit, welche i.w. die Dissertation von Albert enthält.)

3 Alb:1930a

4“Dickson” bedeutet hier das Norm-Kriterium dafür, dass eine zyklische Algebra eine Divisionsalgebra ist. Gegeben sei ein verschränktes Produkt A = (Z,s,b) eines zyklischen Körpers Z|K vom Grad n mit erzeugendem Automorphismus s und Parameter b/=0 im Grundkörper K . Dann besagt das Norm-Kriterium: Wenn n der kleinste Exponent ist, für welchen bn eine Norm aus L ist, dann ist A eine Divisionsalgebra. Vgl. Dickson, “Algebren und ihre Zahlentheorie” Dic:1927 , §42. Auch Hasse in seiner amerikanischen Arbeit “Theory of cyclic algebras over an algebraic number field” Has:1932 spricht von “Dickson’s criterion”. In Wahrheit stammt das Kriterium jedoch von Wedderburn Wed:1914 . Dass dieses Kriterium von den deutschen Mathematikern als “Dicksons Kriterium” bezeichnet wurde, lässt darauf schliessen, dass die Arbeiten von Wedderburn in Deutschland ziemlich unbekannt waren und die Wedderburnschen Resultate zur Struktur der Algebren erst durch das Buch von Dickson bekannt wurden. - Dass Emmy Noether hier einem Irrtum erlegen ist, hat sie selbst bemerkt; vgl. den nächsten Brief * vom 24. 12. 1930. Für einen Zahlkörper K als Grundkörper ist nämlich das Norm-Kriterium in der Tat nicht nur hinreichend, sondern auch notwendig.

5Es handelt sich um Arc:1928 . Diese Arbeit ist zitiert in der Einleitung der Arbeit von Albert, auf die sich Noether bezieht. - Archibald hielt sich damals in Göttingen auf und hatte mathematischen Kontakt zu Emmy Noether.

6Zum Zeitpunkt dieses Briefes war der Hauptidealsatz der Klassenkörpertheorie bereits bewiesen worden: Fur:1929 . Es war Noether also bekannt, dass jedes Ideal eines Zahlkörpers in seinem absoluten Klassenkörper zu einem Hauptideal wird. Die jeweiligen Erzeugenden dieser Hauptideale sind offenbar das, was Noether als “Heckesche ideale Zahlen” bezeichnet. Noether versucht hier offenbar, eine explizite Konstruktion dieser idealen Zahlen mit Hilfe des zerfallenden verschränkten Produkts durchzuführen. Es ist unklar, ob sie damit auch einen neuen, “hyperkomplexen” Beweis des Hauptidealsatzes anstrebt. Die hier angedeutete Noethersche Idee ist, wie es scheint, nicht weitergeführt worden.