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Hasses Normkriterium für Klassenzahl 1. Über ZPE-Ringe. Axiomatisierung der
Klassenkörpertheorie?
Göttingen, 11. 12. 26
Lieber Herr Hasse!
Von Ihren Resultaten scheint mir von allgemeinem Interesse, daß Sie jetzt ein einfaches Normenkriterium für absolute Klassenzahl eins im Zahlkörper haben; und ich meine Sie sollten das auch gleich in der Einleitung erwähnen.1)
Im übrigen bin ich persönlich so stark idealtheoretisch eingestellt, daß ich glaube daß die eigentlich charakteristischen Eigenschaften der Integritätsbereiche sich durch Ideale und nicht durch Elementeneigenschaften aussprechen lassen; und daß Ihre Bedingungen zugleich Hauptidealeigenschaft ergeben, scheint dem recht zu geben.2) Insofern interessiert es mich, ob Hensel etwas wesentliches über den Polynombereich aussagen kann3), wo ja die Polynome nur die algebraischen Gebilde höchster Dimension ergeben - während die übrigen, etwa Raumkurven, notwendig auf Ideale führen. (Sie brauchen sich übrigens Seite 10 bei dem Integritätsbereich mit eindeutiger Elementezerlegung als Koeffizientenbereich nicht auf eine Unbestimmte zu beschränken; obwohl mehrere Unbestimmte bei Auszeichnen einer dasselbe bedeuten, was Sie wohl mit der Beschränkung sagen wollten.) Wenn Sie vom Polynombereich zum Funktionalbereich übergehen4) - also als Einheiten alle Quotienten von in u primitiven Funktionen adjungieren (§3, 4. in meiner Idealtheorie5)) haben Sie wieder Tatbestand von Satz 2 6) ; und im übrigen endlichen Rang inbezug auf die Abelsche Gruppe dieser Einheiten. Dieser Rang wird Summe der Exponenten eines Basiselements; (z.B.:
Damit ist der Polynombereich im wesentlichen eingeordnet; aber zugleich sehe ich, daß Ihre Funktion in jedem Fall konstruierbar:7) wir brauchen nur zu setzen () = 2Summe der Exponenten, wenn = 1e1kek, also () = 2e1+...+ek. Dann folgt (1) bis (4) bei Tatbestand von Satz 2; und bei Tatbestand von Satz 1 wenn Sie zum Funktionalbereich übergehen. (Natürlich außerdem definitionsweise (0) = 0; (y) = 1; was dem Exponenten Null aller Primelemente entspricht). Trotzdem ist natürlich das Normenkriterium für den Zahlkörper vernünftiger! Aber Ihre Note wird kürzer und allgemeiner werden. Der Übergang zum Funktionalbereich ist - zur Notwendigkeit des Kriteriums - natürlich dann und nur dann nötig, wenn der Doppelkettensatz nicht mod jedem m(0) erfüllt ist; (4) wird dann erst im Funktionalbereich erfüllt sein.
Satz 9) ist tatsächlich nicht ganz in Ordnung, wird jetzt ja wohl überhaupt geändert werden.8) Ich habe in §3, 1.9) die folgenden Voraussetzungen, die für Übertragung der Kettensätze hinreichend (und wohl auch im wesentlichen notwendig; sie werden wenigstens bei der eingehaltenen Beweisanordnung alle gebraucht): In J sind die 5 Axiome erfüllt, also auch ganze Abgeschlossenheit (das ist bei Ihrer Fassung nicht vorausgesetzt, wohl aber, wenn Satz (1) oder (2) erfüllt ist); J ist Ordnung; die Erweiterung ist erster Art; dann übertragen sich die Kettensätze; insbesondere besitzt J eine endliche Modulbasis inbezug auf J: 1, ..., k; und damit überträgt sich der endliche Rang unter Beachtung von §3, 2. (Die Korrektur muß also schon vor dem Fragezeichen angebracht werden). Damit ist dann auch die Bemerkung über (a) = (N(a)) richtig; und zwar geht der Beweis direkt, wenn in J Satz 2 gilt, weil dann die 1, ..., k linear unabhängig sind. Wenn nur Axiom I bis V erfüllt, muß man durch Übergang zu geeigneten Quotientenringen (Punktringen) die lineare Unabhängigkeit erzwingen; das hat Grell viel allgemeiner durchgeführt.
Sie schreiben “einfache” Erweiterung; die könnte auch zweiter Art sein. Hier haben - unter Voraussetzung meiner Resultate - Artin und van der Waerden die Gültigkeit der Übertragung gezeigt, aber unter der einschränkenden Voraussetzung, daß der Wurzelring von J endlich inbezug auf J ist. Die Note ist eben als Separat der Göttinger Nachrichten erschienen, ich weiß nicht ob van der Waerden sie Ihnen schon geschickt hat - zusammen mit einer von mir gegebenen Anwendung auf Invarianten-Endlichkeit.10)
Die Normensache muß hier aber noch genauer diskutiert werden (anstatt J ganz-abgeschlossen vorauszusetzen, kann man auch verlangen, daß in dem aus J abgeleiteten ganz-abgeschlossenen Bereich aller J-ganzen Elemente des Quotientenkörpers noch der Doppelkettensatz gilt; das ist aber fast dasselbe.)
Wenn man axiomatisch scharf in die Klassenkörpertheorie hineinsehen könnte, wäre das sehr schön! Wo sind die Sachen von F.K. Schmidt erschienen; er hat sie noch nicht hierhergeschickt! 11)
Beste Grüße, Ihre Emmy Noether.
Ich schicke die Arbeit uneingeschrieben zurück, damit sie nicht bis Montag hier liegen bleibt.
Es fragt sich, ob es nicht vernünftiger ist, (2) in: () = () + ()
umzuwandeln und (1) entsprechend zu ändern; und dann die Exponentensumme
selbst einzuführen. Diese ist, was wir Länge des Ideals nennen; nämlich Länge einer
Kompositionsreihe vom Einheitsideal nach (); wo eventuell zum Funktionalbereich
überzugehen ist. Sie erweist sich besonders in den Grellschen Untersuchungen12) als
höchst wichtige Invariante (vgl. dazu §1013)).
1Offenbar hatte Hasse an Noether einen Manuskript-Entwurf zu seiner Arbeit “Über eindeutige Zerlegung in Primelemente oder in Primhauptideale in Integritätsbereichen” Has:1928 geschickt. (Vgl. dazu die Postkarte * vom 19.1.1925.) Er hatte das Manuskript nicht deshalb geschickt, um es in den Mathematischen Annalen, für die Noether als (inoffizielle) Herausgeberin tätig war, zu publizieren, sondern er wollte ihre Meinung und ihren Rat einholen. (Die Arbeit erschien später im Crelleschen Journal.) In der Arbeit beweist Hasse das in Rede stehende notwendige und hinreichende Normkriterium für Klassenzahl 1 in einem algebraischen Zahlkörper K, nämlich: Zu je zwei ganzen Zahlen ,0 aus K, für die kein Teiler von ist, gibt es ganze Zahlen , so daß
Heute ist dies Kriterium unter dem Namen “Dedekind-Hasse” bekannt. Das Kriterium fand sich unveröffentlicht im Nachlass Dedekinds und wurde von Noether in die Gesammelten Werke von Dedekind aufgenommen (Band 2, Nr. 38) Ded:1932 . In der Erläuterung dazu sagt Emmy Noether: “Das hier gegebene Kriterium ist erst in neuester Zeit - im Rahmen allgemeinerer Untersuchungen - wiedergefunden worden.” Und dann zitiert sie Hasses Abhandlung Has:1928 . Wir können daraus schließen, dass Noether im Jahre 1926, als sie den vorliegenden Brief an Hasse schrieb, das Dedekindsche Manuskript noch nicht kannte, denn sonst hätte sie sicherlich ihren berühmten Ausspruch “das steht schon bei Dedekind” auch Hasse gegenüber getan. Erst später, als sie zusammen mit Robert Fricke und Øystein Ore die Werke von Dedekind herausgab und dabei den Nachlass von Dedekind durchsah, bemerkte sie, dass das Hasse-Kriterium tatsächlich schon bei Dedekind stand.
Allgemeiner beweist Hasse: Ein Integritätsbereich I ist genau dann ein Hauptidealring, wenn es eine nichttriviale multiplikative Funktion : I gibt, die die obige Bedingung (für statt N) erfüllt.
2In seiner Arbeit Has:1928 erwähnt Hasse ausdrücklich, dass er eigentlich nach einem Kriterium für Ringe mit eindeutiger Zerlegung in Primelemente gesucht habe, das nicht nur hinreichend sondern auch notwendig ist. Er habe aber ein solches noch nicht gefunden. Das von ihm gefundene Kriterium (vgl. Anmerkung 1) ist nämlich notwendig und hinreichend für die engere Klasse der Hauptidealringe, wie auch Noether sofort bemerkt.
3Hensel publizierte im Crelleschen Journal Hen:1927 einen Beweis des folgenden Satzes: Ist I ein Integritätsbereich mit eindeutiger Primelementzerlegung, so besitzt auch der Polynomring I[x] eine eindeutige Primelementzerlegung. Im Grunde konnte dieser Satz damals als wohlbekannt gelten, eine einfache Folge des sog. Gauß’schen Lemmas, aber er findet sich anscheinend in der früheren Literatur nicht in dieser Form, wo es sich um einen abstrakten Ring I handelt. Die Henselsche Beweismethode besteht darin, auf dem Polynomring I[x] eine geeignete Funktion anzugeben, welche die o.g. Hassesche Bedingung erfüllt, jedoch nicht für beliebige , , sondern nur dann, wenn das Polynom positiven Grad besitzt, zusammen mit einer Zusatzbedingung für den Fall, dass ein primitives Polynom ist (dann soll relativ prim zu sein).
Mithin sind die Ansätze von Hasse und Hensel ähnlich, übrigens auch in den Bezeichnungen. Zwar liegt das Datum der Henselschen Publikation nach dem Datum des vorliegenden Briefes, aber Hasse, der Hensel besonders nahe stand, kannte die Henselsche Methode. (In der Tat verweist Hensel auf die Hassesche Arbeit als einen “ersten Schritt”, um seine Methode weiter zu entwickeln.)
Erst später gelang es Krull Kru:1931 , die beiden Ansätze von Hensel und von Hasse zu vereinen. Er modifierte das Hassesche Axiom so, dass dadurch genau alle Integritätsbereiche mit Primelementzerlegung erfasst werden. (Vgl. Brief * vom 2.11.1930.) Das im Sinne von Krull modifizierte Axiom fordert (mit den Bezeichnungen aus Anmerkung 1), dass - = q mit () < (), wobei q prim zu sein soll, d.h. q ist kein Nullteiler modulo .
4Der Begriff “Funktionalbereich”, wie ihn Noether definiert, war damals geläufig. Er bedeutet im vorliegenden Falle den Quotientenring des Polynomrings R[u] mit den primitiven Polynomen als erlaubten Nennern, also denjenigen Polynomen, deren Koeffizienten den größten gemeinsamen Teiler 1 besitzen (unter der Voraussetzung, dass R eine eindeutige Primelementzerlegung besitzt). Dieser Funktionalbereich ist ein Hauptidealring. Solche Ringe firmieren heute unter dem Namen “Kronecker function rings” und sind relativ gut untersucht. Vgl. etwa FoLo:2005 . - Hasse sagt in der veröffentlichten Fassung Has:1928 in einer Fußnote, dass er den Hinweis auf den Funktionalbereich einer “brieflichen Mitteilung von Fräulein E.Noether” verdankt. Offenbar meint er den hier vorliegenden Brief von Noether.
5Gemeint ist die Arbeit “Abstrakter Aufbau der Idealtheorie in algebraischen Zahl- und Funktionenkörpern” Noe:1926a in den Mathematischen Annalen.
6Die Satznummern beziehen sich auf das Manuskript von Hasse.
7Zur Funktion siehe Anmerkung 1.
8Den “Satz 9” gibt es in der Publikation Has:1928 nicht, er scheint weggefallen zu sein. Aus der Noetherschen Diskussion scheint hervorzugehen, dass es sich bei dem “Satz 9” um den Übergang zur ganzabgeschlossenen Hülle in einer endlichen, separablen Körpererweiterung gehandelt hatte.
9Hier bezieht sich Noether wieder auf ihre Arbeit Noe:1926a .
10Vgl. Noe:1926 und ArtvdW:1926 .
11Zu dieser Zeit stand Hasse in Briefwechsel mit F. K. Schmidt, der auf Hasses Anregung hin begonnen hatte, die Klassenkörpertheorie der algebraischen Funktionenkörper einer Unbestimmten mit endlichem Konstantenkörper zu entwickeln. Hasse hatte offenbar die Idee, die Klassenkörpertheorie axiomatisch zu begründen und damit sowohl den Zahlkörperfall als auch den Funktionenkörperfall gleichzeitig zu behandeln. Hierzu schreibt nun F. K. Schmidt in einem Brief vom 6.12.1926 an Hasse: “Die von Ihnen erwähnte axiomatische Begründung der Klassenkörpertheorie hatte ich in dieser Allgemeinheit nicht geplant...”. Und später in demselben Brief: “Sehr schön wäre es natürlich, wenn man die Endlichkeitsvoraussetzungen so formulieren könnte, dass durch sie alle Körper charakterisiert würden, bei denen jeder relativ Abelsche Oberkörper als Klassenkörper aufgefasst werden kann; ähnlich wie nach Frl.Noether alle Körper mit gewöhnlicher Idealtheorie durch Teilerketten- und Vielfachen-Postulate gekennzeichnet sind...”. Es scheint so, dass Hasse in einem Brief an Noether über diesen Briefwechsel mit F. K. Schmidt berichtet hatte, und Noether das so verstanden hat, dass F. K. Schmidt bereits eine Axiomatik der Klassenkörpertheorie hätte, was aber nicht der Fall war. - Die Arbeit, nach der sich Noether erkundigt, hatte F. K. Schmidt im November 1926 in den Erlanger Berichten als eine erste vorläufige Ankündigung eingereicht FKS:1928 . Vgl. dazu Roq:2001 . - Zur Idee einer Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie vgl. auch den nachfolgenden Brief * vom 3. 1. 27.
12Wahrscheinlich bezieht sich Noether auf die Arbeit Gre:1927a , die allerdings damals noch nicht erschienen war.
13§10 bezieht sich auf die Noethersche Arbeit Noe:1926a . Dort werden Kompositionsreihen behandelt.