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03.01.1927, Noether an Hasse, Postkarte



Inhalt:

Noethers Ideen zur Klassenkörpertheorie in Charakteristik p. Hasses Arbeit über komplexe Multiplikation.


Göttingen, 3. 1. 1927

Lieber Herr Hasse!

Ihre Ideen zur Klassenkörpertheorie interessieren mich sehr. Es geht in die Richtung, die ich mir immer im Anschluß an Dedekind-Weber (Crelle 92) gedacht hatte.

I. Formaler Teil,

II. Abstrakte Riemannsche Fläche.

Der formale Teil - der einen Integritätsbereich auszeichnet - wird dabei wesentlich idealtheoretisch; die Voraussetzungen sind meine fünf Axiome, aus denen man - durch Übergang zum Quotientenring - Ihr 6. Axiom der Hauptidealeigenschaft zusätzlich gewinnen kann. Hier sind die Voraussetzungen weiter als Sie annehmen; z.B. gilt ja meine hierher gehörige Diskriminantenarbeit für Funktionalbereiche, also algebraische Funktionen beliebig vieler Variablen. Durch die willkürliche Wahl des Integritätsbereiches erschöpft man aber noch nicht den ganzen Körper. Dagegen glaube ich, daß Sie beim II. Teil mit Ihrer Vermutung - Zahlkörper oder algebraische Funktionen einer Variablen - recht haben; hier müssen aber alle Integritätsbereiche herangezogen werden. Das Vorbild der Klasseneinteilung scheinen mir hier die Dedekind-Weberschen Polygonklassen (Divisorenklassen) zu sein, denen Ihre Bewertungsklassen entsprechen würden. Wenn Sie hierauf - statt auf Idealklassen - die Klassenkörpertheorie gründen könnten, wäre es sehr schön! Eine Endlichkeitsbedingung muß aber zukommen; denn bei Dedekind-Weber (Charakteristik Null) gibt es unendlich viele Polygonklassen.1)

Da haben Sie noch ein paar ganz in der Luft schwebende Ausführungen mehr. Guten weiteren Erfolg für 1927 ! 2)

Ihre Crelle-Jubiläumsarbeit scheint endlich einmal eine vernünftige Einführung in die komplexe Multiplikation zu geben! 3)

Beste Grüße, Ihre Emmy Noether.
    

Anmerkungen zum Dokument vom 3.1.1927

1Offenbar hatte Hasse, im Anschluss an Noethers vorangegangenen Brief, nunmehr einige genauere Überlegungen mitgeteilt, wie er sich eine Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie vorstellte. Die Einzelheiten dieser Überlegungen sind uns nicht bekannt. Interessant ist, dass er damals schon eine gleichzeitige Behandlung von Zahlkörpern und Funktionenkörpern einer Variablen ins Auge gefasst hatte, also (bei endlichem Konstantenkörper) die Theorie der heute so genannten globalen Körper. Und zwar denkt offenbar Hasse an eine Grundlegung der Klassenkörpertheorie auf bewertungstheoretischer Grundlage.

2So ganz in der Luft schwebten die Ausführungen von Emmy Noether nicht. Die Situation bei Dedekind-Weber kann abstrakt beschrieben werden als ein Körper, in dem eine Menge von Absolutbeträgen vorgegeben ist, also als ein multi-bewerteter Körper. Wenn Noether von einer “Endlichkeitsbedingung” spricht, die hinzukommen müsse, dann lässt sich das so interpretieren, dass diese Absolutbeträge entweder diskret mit endlichem Restklassenkörper sein sollen, oder aber archimedisch. Nun hat Hasse bei seinem zahlentheoretischen Aufbau der Arithmetik stets mit besonderem Nachdruck auf die Rolle der Produktformel für Bewertungen hingewiesen. (Siehe z.Bsp. Has:1926d .) Nimmt man diese Produktformel als Axiom dazu, dann handelt es sich nach Artin-Whaples ArtWha:1945 entweder um einen algebraischen Zahlkörper oder um einen Funktionenkörper einer Variablen mit endlichem Konstantenkörper, also um einen globalen Körper. In einem globalen Körper gilt nun bekanntlich die Klassenkörpertheorie.

Dies würde eine ziemlich indirekte Axiomatisierung der Klassenkörpertheorie ergeben, entspräche aber wahrscheinlich den Noetherschen Ideen, die sie in diesem Brief äußert. Der Nachteil ist, dass die lokale Klassenkörpertheorie dadurch nicht erfasst würde. Es ist jedoch zu beachten, dass die lokale Klassenkörpertheorie damals noch nicht bekannt war; diese wurde erst später durch Hasse Has:1930 entdeckt und spielt in späteren Briefen Noethers eine Rolle.

Artin-Tate ArtTat:1990 und auch Neukirch Neuk:1986 haben schließlich Axiome anderer Art für die Klassenkörpertheorie aufgestellt.

3Es handelt sich um Hasses Arbeit “Neue Begründung der komplexen Multiplikation I. Einordnung in die allgemeine KlassenkörpertheorieHas:1926c , die 1926 im Jubiläumsband des Crelleschen Journals aus Anlaß seines 100-jährigen Bestehens erschienen war. Hierzu erschien später ein zweiter Teil Has:1931b , in welchem die Komplexe Multiplikation ohne Benutzung der Klassenkörpertheorie entwickelt wurde.