Natürlich sind die Überlegungen, die Artin mitteilt, nicht als „Stümpereien“ anzusehen, wie er sie nennt. Sondern es handelt sich um weiterführende Kommentare, die zeigen, dass er die Bedeutung der Resultate von Brauer, Hasse und Noether und ihre Relevanz für die Klassenkörpertheorie sofort erkannt hat.
Artin benutzt das Normsymbol , das Hasse in seiner Arbeit [Has30e] in Beantwortung einer Frage von Artin eingeführt hatte. Artin kannte und schätzte diese Arbeit, die er „eine wundervolle Entdeckung“ genannt hatte.146 In dieser Arbeit hatte Hasse die Produktformel
bewiesen. Die Artinsche Behauptung unter 1.) ist nun, dass das Normsymbol durch diese Produktformel charakterisiert ist.
Artin sagt nichts über den Beweis, den er sich dazu ausgedacht hat. Was Hasse betrifft, so wissen wir nicht, ob er die Artinsche Behauptung schon kannte, wie Artin vermutet. Aber wir können es wohl annehmen. Denn Hasse hatte ja in seiner amerikanischen Arbeit [Has32b] gezeigt, dass und wie das Normenrestsymbol mit den Invarianten der zyklischen Algebren A zusammenhängt. Die amerikanische Arbeit erschien zwar erst 1932, aber wir wissen, dass sie schon im Mai 1931 fertiggestellt und den Transactions of the AMS vorgelegt worden war. Hasse hatte eine Zusammenfassung seiner Resultate an Emmy Noether geschickt, und es ist anzunehmen, dass er auch Artin informiert hatte. Jedenfalls kannte Artin die Resultate dieser Arbeit, da er ja von den Invarianten spricht.
Damit läßt sich die Artinsche Behauptung über das Normsymbol zurückführen auf die Summenformel
für zyklische Algebren, also auch für alle einfachen Algebren, die ja nunmehr als zyklisch erkannt sind. Die obige Behauptung von Artin für das Normsymbol lässt sich nunmehr auch dahingehend interpretieren, dass das Symbol der Hasseschen Invarianten durch die Summenformel charakterisiert ist. Das ist die Artinsche Behauptung unter Punkt 2.). Das steht zwar noch nicht in der amerikanischen Arbeit von Hasse, sondern wird erst in Hasses nächster Arbeit [Has33a], die er Emmy Noether zum 50.Geburtstag widmete, ausgesprochen und bewiesen. Aber die Bestandteile des Beweises sind alle schon in Hasses amerikanischer Arbeit [Has32b] enthalten.
Die unter Punkt 3.) angegebene Behauptung Artins über die Darstellbarkeit einer Algebra durch Kreiskörper ist, soweit wir wissen, in der Literatur nicht behandelt. Dass aber die Algebra einer zyklischen Kreiskörperalgebra ähnlich ist, wie Artin schreibt, steht ebenfalls in der Hasseschen Arbeit [Has33a]. Und zwar auch, ebenfalls im Einklang mit Artin, als Folge des Artinschen Lemmas zum Reziprozitätsgesetz, für das jedoch in [Has33a] ein einfacherer Beweis geliefert wird, der später, in den Marburger Vorlesungen [Has33c], noch einmal vereinfacht wird.
Das von Artin erwähnte „Schursche Theorem“ war damals noch kein Theorem, sondern eine Vermutung von Schur [Sch06]. Hasse konnte in [BHN32] nur zeigen, dass jede Darstellung einer Gruppe der Ordnung n im Körper der nh-ten Einheitswurzeln realisierbar ist, für hinreichend großes h. Er hatte Richard Brauer gefragt, ob dieser den Satz auch für h = 1 beweisen könne. Das war nicht der Fall. Erst viel später, im Jahre 1945, gelang Brauer der Beweis [Bra45]. Kurz danach konnte Brauer sein Ergebnis verbessern, indem er zeigte, dass sogar der Körper der e-ten Einheitswurzeln ausreicht, wenn e der Exponent der Gruppe ist [Bra47a].