Artin fragt in seinem Brief an, ob Hasse einen „neuen Bericht über Takagi für die Annalen“ schreiben will. In der Tat gab es damals Überlegungen dahingehend, dass Hasse in den Mathematischen Annalen eine vollständige Darstellung der Takagischen Klassenkörpertheorie publizieren solle. Offenbar hatte Artin davon gehört und begrüßt nun diesen Plan. Der Plan wurde jedoch nicht realisiert.
Anscheinend ging dieser Plan zurück auf eine Idee von Hilbert, der die schwer zugänglichen Takagischen Arbeiten [Tak20, Tak22] zur Klassenkörpertheorie in den Mathematischen Annalen noch einmal abdrucken und damit einem breiteren Leserkreis zugänglich machen wollte. Wir haben im Hilbert-Nachlass einen Brief von Takagi an Hilbert gefunden, datiert am 28.8.1926, in dem es heißt:
Ihrem wohlwollenden und mir sehr ehrenhaften Vorschlag, meine Abhandlungen über die relativ abelschen Zahlkörper und über das Reziprozitätsgesetz in den mathematischen Annalen abdrucken zu lassen, gehe ich gerne ein …Obwohl nun viele sachliche und redactionelle Verbesserungen mir sehr wünschenswert erscheinen, möchte ich doch diesmal mich auf wenige, ohne zu grossen Zeitaufwand mögliche Abänderungen beschränken; ich werde nochmals die Abhandlungen durchsehen und hoffe die Separatdrucke mit Eintragungen baldmöglichst nach Göttingen absenden zu können …Es ist mir sehr willkommen, wenn ein deutscher Mathematiker gewillt ist, die sehr notwendigen sprachlichen Verbesserungen zu unternehmen, sowie auch die Korrektur beim Druck…
Offenbar hatte Hilbert vorher mit einem „deutschen Mathematiker“ vereinbart, dass dieser die Edition des Takagischen Textes übernehmen würde. Wie es scheint, war das Bessel-Hagen gewesen. Jedenfalls schrieb Bessel-Hagen am 17.August 1926 aus Göttingen eine Postkarte an Hilbert, der sich damals im Urlaub in St. Moritz aufhielt, mit dem folgenden Inhalt:
…In dem vor wenigen Tagen erschienenen Hefte des Jahresberichtes der D.M.V. befindet sich ein Bericht von Hasse über die Klassenkörpertheorie, der so vorzüglich klar geschrieben ist und den ganzen Aufbau der Theorie mit einem nur die Hauptgedanken enthaltenden Skelett der Beweise so wundervoll herausschält, daß die Lektüre ein wahres Vergnügen ist und für das Eindringen in die Theorie jetzt wirklich alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt sind …
Wir schließen daraus, dass Bessel-Hagen von Hilbert über dessen Takagi-Pläne für die Mathematischen Annalen informiert worden war, und dass er deshalb auf die neue Situation aufmerksam machen wollte, die durch das Erscheinen des Hasseschen Klassenkörperberichts [Has26a] entstanden war. Man beachte das Datum: Die Postkarte von Bessel-Hagen war am 17.8. datiert, der Brief von Takagi 11 Tage später am 28.8. Da aber die Post von Deutschland nach Japan damals sicher länger als 11 Tage dauerte (es gab ja noch keine Luftpost), so muss Hilbert an Takagi schon geschrieben haben, bevor er durch Bessel-Hagen von dem Hasseschen Bericht erfuhr.
Wie es scheint, hatte Hilbert daraufhin von dem Plan eines reinen Wiederabdrucks der Takagischen Arbeiten Abstand genommen; er wünschte nunmehr eine neue Darstellung mit allen Beweisen. Man beachte dazu, dass in dem 1926 erschienenen Teil I des Hasseschen Klassenkörper-Berichts [Has26a] die Beweise nicht vollständig ausgeführt sind, was ja auch Bessel-Hagen an Hilbert schreibt. Ursprünglich hatte Hasse gar nicht vor, auf die Details der Beweise einzugehen, sondern sein Ziel war, wie er in der Einleitung zu [Has26a] schreibt,
einen Überblick über diese höchst elegante, aber leider bisher nur wenig bekannte Theorie der relativ-abelschen Zahlkörper, sowie einige sich daran anschließende, bis heute ungelöste Probleme zu geben, in der Absicht, einerseits die Fragestellungen, Grundgedanken und Hauptresultate dieser Theorie weiteren Kreisen zugänglich zu machen und ihr damit neue Freunde zu werben, andererseits demjenigen, der in die Einzelheiten der Theorie eindringen will, einen praktischen Wegweiser zu liefern, der ihm Umwege beim Studium der Originalarbeiten erspart (zitiert aus [Has26a]).
In dem Nachlass von Hasse haben wir nun einen Brief von Hilbert gefunden, datiert am 1.November 1926, in dem es heißt:
Ihr Anerbieten, für die Annalen ein Manuskript mit dem Titel „Takagis Theorie der Abelschen Zahlkörper, bearbeitet von Hasse“ zur Verfügung zu stellen, nehme ich gerne an – zugleich auch im Namen der Annalenleser und der zahlentheoretischen Wiss., der Sie damit einen wichtigen Dienst erweisen …Ich habe soeben einen Brief an Takagi aufgesetzt, darf aber von vorneherein seines Einverständnisses sicher sein.
Hasse antwortete zwei Tage später, am 3.November 1926. Er beruft sich auf ein ausführliches Gespräch mit Bessel-Hagen über einen eventuellen Takagi-Bericht für die Mathematischen Annalen. Dies deutet wiederum darauf hin, dass Bessel-Hagen an dem Plan eines Takagi-Berichts für die Mathematischen Annalen beteiligt war. Hasse erläutert sein Konzept eingehend, und er begründet, weshalb eine neue, systematische Darstellung der Theorie wünschenswert ist. Dann fragt er:
Kommt es Ihnen nicht darauf an, wie lang die Publikation ist, wollen Sie also eine unbedingt vollständige, wenn auch noch so lange Wiedergabe der Theorie? Oder darf ein gewisser Umfang nicht überschritten werden?
Wiederum zwei Tage später, am 5.November, antwortet Hilbert:
Ich bin gar nicht im Zweifel, daß wir Ihren ersten Vorschlag annehmen sollten und eine unbedingt vollständige Wiedergabe der Takagischen Theorie in Ihrer Ausführung und Korrektur in den Annalen bringen müssen; ich möchte Sie sogar bitten, nicht etwa auf Kosten der leichten Lesbarkeit und Verständlichkeit Textkürzungen vorzunehmen; es kann in diesem Fall auf einige Druckbogen mehr nicht ankommen. Ich möchte eine solche Darstellung wünschen, dass der Leser nicht noch andere Abhandlungen von Ihnen, Takagi oder anderen hinzuzuziehen braucht, sondern – wenn er etwa mit den Kenntnissen meines Berichts ausgestattet ist – Ihre Abhandlung verhältnismäßig leicht verstehen und auch die Grundgedanken sich ohne große Mühe aneignen kann. Ich bin …überzeugt, dass das so entstehende Heft (bez. Doppelheft) den Annalen zur Zierde gereichen wird…
Allerdings: Hasse wollte den Bericht nicht persönlich für den Druck bearbeiten. In seinem Brief hatte er geschrieben:
…Ich stelle meine Arbeitskraft, wie ich auch schon Herrn Bessel-Hagen sagte, insofern gerne zur Verfügung, daß ich meine – lückenlosen – Aufzeichnungen, die meinem Bericht an die D.M.V. zugrunde liegen, Herrn Bessel-Hagen zur vollständigen Gestaltung des Manuskripts gebe. Bei der Fülle der verschiedenen Arbeiten (Fortsetzung meines Takagi-Berichtes an die D.M.V. (Reziprozitätsgesetze), Arbeiten zur komplexen Multiplikation (Begründung durch die -Funktion), Algebra in Sammlung Göschen u.a.m.) kann ich leider nicht mehr als dies tun, d.h. nicht persönlich die Gestaltung zusagen, will aber gerne ein von Herrn Bessel-Hagen bearbeitetes Manuskript einer genauen Durchsicht unterziehen …
Dass dieser Plan schließlich nicht zur Ausführung gelangte, lag vielleicht daran, dass Bessel-Hagen häufig krank war und daher die ihm zugedachte Aufgabe nicht wahrnehmen konnte. Vielleicht gab es auch andere Gründe. Jedenfalls ist im Jahre 1927, als sich Bessel-Hagen vornehmlich auf Betreiben Hasses nach Halle umhabilitierte, in der Korrespondenz von Bessel-Hagen mit Hasse keine Rede mehr von dem Klassenkörpertheorie-Projekt für die Mathematischen Annalen. In dem Antrag an die Fakultät in Halle auf Umhabilitation Bessel-Hagens schreibt Hasse:
„Herr Bessel-Hagen wird als eine Persönlichkeit von beeindruckendem Verständnis und hoher wissenschaftlicher Kultur gerühmt, der ausgezeichnet durchdachte Vorlesungen hält.“
Hasse hatte sich von der Umhabilitation Bessel-Hagens, den er als Person und wegen seiner weitgespannten Bildung schätzte, wohl hauptsächlich eine Unterstützung bei den Vorlesungen zur Analysis versprochen.
Im Brief Nr.10 vom 21.7.1927 scheint Artin noch nicht über diese Entwicklung informiert zu sein, denn er bezieht sich auf die Nachricht, dass sich Bessel-Hagen von Göttingen nach Halle umhabilitieren wird und äußert sich kritisch über den Plan, dass jener den Hasseschen Bericht über Takagi für die Mathematischen Annalen redigieren soll.
Übrigens zog Bessel-Hagen schon bald – 1928 – nach Bonn weiter, wo er bis zu seinem Tod 1945 blieb. Die Übersiedlung nach Bonn war durch Toeplitz veranlasst worden, der 1928 von Kiel nach Bonn gewechselt hatte und sich in Bonn einen Mitarbeiter wünschte, der seinen (Toeplitz’) historisch-pädagogischen Interessen entgegenkam. Das geht aus dem Briefwechsel Toeplitz-Hasse hervor. Außerdem erhielt Bessel-Hagen in Bonn als Dozent ein festes Einkommen, während dies in Halle nicht der Fall war.
Anstelle eines Berichtes für die Annalen hat sich Hasse dann entschlossen, die Beweise zu dem Teil I seines Berichtes zu publizieren; sie erschienen als Teil Ia im DMV-Jahresbericht [Has27a], nach „Anregungen von verschiedenen Seiten“, wie er schreibt.
Der Teil II erschien schliesslich 1930 und enthielt die Reziprozitätsgesetze auf der Grundlage von Artins Reziprozitätsgesetz [Has30a]. In späteren Briefen werden wir sehen, dass Artin von Hasse laufend über den Fortgang seiner Arbeiten zu diesem Teil II informiert wurde und daran regen Anteil nahm.