Im darauffolgenden Jahr war ich verantwortlich für die Organisation des 28.Kongresses der Kanadischen Mathematischen Gesellschaft (Société mathématique du Canada), der vom 6. bis 8.Juni 1974 an der Universität Laval in Quebec stattfand. Wie jedes Jahr wurde bei diesem Anlass auch der Jeffery-Williams-Preis vergeben, der 1968 von der Gesellschaft geschaffen worden war, um besondere wissenschaftliche Verdienste eines mit Kanada verbundenen Mathematikers auszuzeichnen. Der damalige Preisträger war Hans Zassenhaus von der Ohio State University, der früher Professor an der McGill University in Montreal gewesen war. Zassenhaus trug über die Briefe vor, die Minkowski an Hilbert geschrieben hatte und die Zassenhaus im Jahre zuvor zusammen mit Lily Rüdenberg, der Tochter von Hermann Minkowski, beim Springer-Verlag herausgegeben hatte (s. [RZ73]). In einer an den Vortrag anschliessenden längeren Unterhaltung riet er mir, den Briefwechsel Hilbert-Klein in Göttingen einmal anzusehen, da er wusste, dass ich mich für Hilberts und Kleins Originalarbeiten interessierte. Eine Herausgabe dieses Briefwechsels wäre eine „nützliche und aufschlussreiche“ Aufgabe. Auch B.L.van der Waerden, den ich zwei Wochen später in Zürich traf, ermunterte mich dazu, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Dazu bot sich nun schon bald eine Gelegenheit. Denn am 30.Juni 1974 machte ich auf dem Wege zu Helmut Hasse in Ahrensburg Halt in Göttingen, wo ich am darauffolgenden Tag auf Anraten und auf Empfehlung von Hasse seinen ehemaligen Doktoranden und damaligen Direktor der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Wilhelm Grunwald, besuchen und bei dieser Gelegenheit Einsicht in den handschriftlichen Nachlass von Klein erhalten konnte. Grunwald ist durch den „Satz von Grunwald-Wang“ in seiner von Hasse betreuten Dissertation bekannt geworden (s. [Roq05b], Abschnitt 5.3).
Zwei Tage später in Ahrensburg führte mich Hasse nach einem Besuch beim Rotary-Club in Hamburg und einem Treffen mit Hel Braun, die nach Hasses Emeritierung auf seinen Lehrstuhl gefolgt war, in sein Büro im Mathematischen Institut in Hamburg, wo noch das Schreibpult stand, an dem auch Erich Hecke gearbeitet hatte. Hier befand sich seine viele Ordner umfassende höchst interessante und umfangreiche Korrespondenz, wo ich, angeregt durch den Besuch des Klein’schen Nachlasses in Göttingen, Hasses Erlaubnis erhielt diese durchzusehen. Besonders aufschlussreich fand ich die 49 Briefe von Artin an Hasse zwischen 1923 und 1954. Sie schienen mir ein wichtiges und sehr interessantes Dokument zur Geschichte der Klassenkörpertheorie und der Algebrentheorie zu sein. Hasse hat mir diese auch sogleich gerne überlassen und mir völlig freie Hand gegeben für eine eventuelle Veröffentlichung sowohl für diesen Briefwechsel als auch für weitere, wobei derjenige zwischen Emmy Noether und Helmut Hasse als nächster in Frage kam.
Zurück in Quebec im Herbst, nachdem von der Bibliothek in Göttingen Kopien des Briefwechsels Hilbert-Klein und von Hasse die Briefe von Emil Artin und Emmy Noether eingetroffen waren, konnte ich mir von ihnen ein genaueres Bild machen, auch vom Umfang der Arbeiten, die für die Editionen notwendig waren. Nach der genaueren Lektüre der Briefe entschloss ich mich, je eine Herausgabe des Hilbert-Klein Briefwechsels20 und dann zunächst der Artin-Briefe vorzubereiten, umso mehr, als Hans Zassenhaus sich bereit erklärte, bei beiden Projekten mitzuwirken. Das war sehr ermutigend, denn Zassenhaus hatte 1934 bei Artin in Hamburg doktoriert und war 1936–37 dessen Assistent gewesen. Dadurch war er auch mit Artins Arbeiten bestens vertraut. Überdies war Zassenhaus mit Natascha Artin, der Frau Artins, sehr befreundet, mit der er in Hamburg auf dieselbe Schule gegangen war. Mit Zassenhaus’ eventueller Mitarbeit war auch Hasse einverstanden. Auch Zassenhaus fand, dass eine Edition der Briefe von Artin an Hasse eine „wertvolle und wünschenswerte“ Aufgabe wäre.
Gedacht hatten wir damals an ein Buch bei Springer, der sich dafür interessierte, in der Art der Publikation der Briefe Minkowskis an Hilbert durch Rüdenberg und Zassenhaus. Es sollte folgendes enthalten: eine Geschichte der Klassenkörpertheorie bis und mit 1923, eine Biographie von Hasse, eine Biographie von Artin und die Briefe Artins an Hasse mit ausführlichen Kommentaren. So habe ich damals mit der Redaktion einer Biographie von Hasse begonnen, die dann zu den Veröffentlichungen [Fre77], [Fre81c] und [Fre85b] geführt hat. Zassenhaus wollte die Biographie von Artin schreiben, und die Redaktion einer Geschichte der Klassenkörpertheorie bis und mit 1923 habe ich übernommen. Den laufenden Kommentar wollten wir etwa in der Weise gestalten, wie das bei Dedekinds Werken [Ded32] durch Robert Fricke, Emmy Noether und Öystein Ore geschehen war. Ein Problem war nun das Tippen der Briefe, das natürlich nur von einer Deutsch sprechenden Sekretärin bewerkstelligt und daher weder in Ohio noch in Quebec durchgeführt werden konnte. Glücklicherweise verbrachte ich die Zeit von Mai bis August 1975, nachdem uns Hasse im April in Quebec von Orono aus wieder für einige Tage besucht hatte, wie jedes Jahr am Forschungsinstitut für Mathematik der ETH, wo Frau Rahel Boller in den nachfolgenden Monaten freundlicherweise im Wesentlichen die umfangreiche Abschrift der Briefe besorgen konnte. Als sich dann aber im darauffolgenden Jahr der Springer-Verlag aus Angst vor einem finanziellen Risiko für den Briefwechsel nicht mehr interessierte, wurde das Manuskript vorerst einmal beiseite gelegt.
Gegenüber der in der Reihe „Collection Mathématique“ publizierten ersten Fassung der Briefe vom Januar 1981 (s. [Fre81a]) fehlten damals allerdings noch die Kurzbiographien zu Artin und Hasse, die Einleitung, die Kurzübersicht über den Inhalt der Briefe und das Namen- und Sachregister.