Helmut Hasse habe ich erstmals im Jahre 1971 am Mathematischen Forschungsinstitut in Oberwolfach getroffen anlässlich der von ihm zusammen mit Peter Roquette vom 22. bis 28.August organisierten Tagung über Algebraische Zahlentheorie. Zuerst machte er auf mich einen eher distanzierten und abweisenden Eindruck, aber diese erste Einschätzung sollte sich alsbald als falsch herausstellen. Als ich ihn gegen Ende der Tagung fragte, ob er für ein Semester nach Quebec an die Universität Laval kommen wolle, um dort eine Vorlesung über Klassenkörpertheorie zu halten, sagte er spontan zu. Im darauffolgenden Briefwechsel mussten alle die formalen, finanziellen und technischen Einzelheiten geregelt werden, welche die Universität und die finanzierenden Institutionen einem solchen Gastaufenthalt auferlegen. Dabei lernte ich Hasse als einen bescheidenen und äusserst pflichtbewussten und liebenswürdigen Menschen kennen, der alle damit zusammenhängenden Fragen geduldig und mit grosser Pünktlichkeit beantwortete.
Am 2.September 1972 traf Hasse in Quebec ein. Seine Vorlesung über Klassenkörpertheorie führte von den Kreiskörpern als Klassenkörper zu den Hauptsätzen der Klassenkörpertheorie bis zur Theorie von Chevalley, wobei Hasse den Zugang über die Algebrentheorie wählte, der ja hauptsächlich ihm und seinen Arbeiten aus den Jahren 1930 bis 1933 zu verdanken ist. In einem Anhang wurde die Geschlechtertheorie behandelt, zuerst im quadratischen Fall, worüber Hasse auch einen Artikel in Arbeit hatte betreffend die Bestimmung der Struktur der 2-Klassengruppe eines Quadratischen Zahlkörpers (s. [Has75a]), und dann allgemein im abelschen Falle, wobei er der Theorie von Leopoldt folgte (s. [Leo53]), die ja ebenfalls auf Hasses Anregung und seine Monographie „Über die Klassenzahl abelscher Zahlkörper“ zurückgeht (s. [Has52]). Die Notizen zur Vorlesung habe ich im Februar 1973 herausgegeben als No.11 der Reihe „Collection Mathématique, Département de mathématiques, Université Laval“ unter dem Titel „Class Field Theory“ (s. [Has73]).
In diesen beiden Monaten September und Oktober 1972 hatte ich das Glück, Hasse sehr persönlich kennenzulernen und ihm sehr nahe zu kommen, da wir praktisch den ganzen Tag zusammen verbrachten. Ich holte ihn morgens vor der Vorlesung im Hotel ab; nach der Vorlesung wurde diskutiert und die Vorlesung weiter vertieft, und dann folgten eine Exkursion in die nähere oder weitere Umgebung von Quebec und schliesslich das Abendessen bei uns zuhause. In höchst gelockerter und entspannter Atmosphäre wurde über vieles diskutiert, wobei wir von Hasses vielen kulturellen Interessen profitierten und uns insbesondere der deutsche Kulturkreis näher gebracht wurde. Diese Abende, die auch immer Musik einbezogen, hat auch Hasse sichtlich sehr genossen. Während und im Anschluss an seinen Gastaufenthalt in Quebec gab Hasse Vorträge an den Universitäten McGill in Montreal und in Sherbrooke, an der Queens’s University in Kingston, wo er Paulo Ribenboim besuchte, in Toronto und an der McMaster University in Hamilton.
Im folgenden Frühjahr waren wir vom 10. bis 20.Mai 1973 Gast in Ahrensburg, wo Hasse in einem gemütlichen dreistöckigen Vorstadthaus mit schönem Garten die oberen beiden Stockwerke bewohnte. Wir belegten das oberste Stockwerk, wo sich auch Hasses Arbeitszimmer befand, und wo er seine grosse Separata-Sammlung fein säuberlich geordnet in einem speziellen Separata-Schrank aufbewahrte. Am Tage wurden Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung von Ahrensburg und nach Hamburg unternommen, so auch ein Tagesausflug in die Holsteinische Schweiz mit einem Abstecher nach Schillsdorf im Amt Bokhorst, wo wir Paul Ziegenbein in seinem Landhaus besuchten, einen freundlichen, liebenswürdigen Herrn, der sich allerdings nur noch im Rollstuhl bewegen konnte. Ziegenbein war ursprünglich Hasse, als dieser im Jahre 1933 in Göttingen die Leitung des Mathematischen Institutes übernahm, vom Ministerium zur Überwachung zur Seite gestellt worden, da Hasse, der sich gegen jede politische Einflussnahme entschieden wehrte, dem Ministerium nicht genehm war. Hasse hat es dann aber verstanden, Ziegenbein, der Parteimitglied mit einer tiefen Parteinummer war, für sich zu gewinnen. Mit dessen Hilfe vermochte er sich gegen die ständige Einmischung des Ministeriums in die Angelegenheiten des Institutes zur Wehr zu setzen (s. [Fre77]). Nach dem Kriege war Ziegenbein, der das lokale Plattdeutsch sprach, Leitender Verwaltungsbeamter beim Amt Bokhorst.
Von unseren Ausflügen waren wir stets sehr pünktlich zurück, um das von Hasses Haushälterin, Frau Finnern, zubereitete Abendbrot einzunehmen. Pünktlichkeit war auch gefordert, weil genau fünf Minuten vor den Abendnachrichten automatisch das Fernsehgerät sich einschaltete. Mit grossem Interesse verfolgte Hasse die Neuigkeiten. Nach den Nachrichten wurde das Fernsehgerät sogleich wieder abgeschaltet, und man widmete sich wieder der Mathematik und anderen kulturellen Themen. Hasse war damals in regem Briefverkehr mit vielen Mathematikern aus den USA, die er im Jahre 1962 erstmals und dann nach seiner Emeritierung im Jahre 1966 jedes Jahr besucht hatte, und wo er auf das Herzlichste empfangen worden war. Als wir damals in Ahrensburg waren, beschäftigte er sich insbesondere mit Problemen von Leon Bernstein, den er bei dessen Untersuchungen zur Herstellung parameter-abhängiger Scharen quadratischer Grundeinheiten unterstützte (s. [BH75]), Probleme, die an eine gemeinsame Arbeit über Einheitenberechnung mittels des Jacobi-Perron’schen Algorithmus anschlossen (s. [BH65]). Bernstein war nur einer von vielen amerikanischen Mathematikern, die durch Hasse in der mathematischen Forschung geleitet oder überhaupt erst in die Forschung eingeführt worden waren. Bernstein, der sich nach seiner Emeritierung in Israel niederliess, ist ihm auch stets dankbar und freundschaftlich verbunden geblieben.