Artin benutzt die Terminologie „Lagrangesche Wurzelzahlen“, die auch Hilbert in seinem Zahlbericht [Hil97] verwendet. Heute spricht man wohl meist von „Gauss’schen Summen“.
Bei dem Beweis des Eisensteinschen Reziprozitätsgesetzes für Einheitswurzeln von Primzahlordnung spielen die Gauss’schen Summen eine wichtige Rolle. Dies erklärt, warum Artin jetzt sagt, auch für höhere Exponenten n laufe das Eisensteinsche Reziprozitätsgesetz wieder auf Gauss’sche Summen (oder Lagrangesche Wurzelzahlen) hinaus, aber diesmal eben für Einheitswurzeln von höherer Ordnung n. Das sei, so Artin, ungleich schwieriger.
Weshalb er sich dann jedoch ausgerechnet mit kubischen Gauss’schen Summen beschäftigt, also mit = 3, ist in diesem Zusammenhang nicht ganz einsichtig. Wahrscheinlich war es das wichtige und tiefliegende, im quadratischen Falle auf Gauss zurückgehende Problem der „Vorzeichenbestimmung“, das im kubischen Falle noch nicht gelöst war, was Artin gereizt hat, sich damit zu beschäftigen. Im kubischen Fall geht es nicht um das Vorzeichen, sondern um den Winkelsextanten, in den eine Gauss’sche Summe fällt. Für den Beweis des Eisensteinschen Reziprozitätsgesetzes spielt das zwar keine Rolle, denn dort geht es nach den üblichen Beweisen um die -te Potenz der Gausschen Summe. Aber für sich genommen ist die Vorzeichenbestimmung ein interessantes Problem.
Dieses von Artin angesprochene Problem ist alt und wurde von Kummer in den Jahren 1842-1846 im Crelleschen Journal gestellt. Nur aus dem vorliegenden Brief weiß man, dass sich Artin damit beschäftigt hat; in den Publikationen von Artin erscheint das Problem nicht.
Um den von Artin als Beilage beigefügten Zettel zu lesen, beachte man, dass in seiner Bezeichnungsweise R den Körper der rationalen Zahlen bedeutet, und die analytisch normierte primitive dritte Einheitswurzel. Ferner bezeichnet den normierten kubischen Charakter modulo einer Primzahl von R(), definiert durch die Kongruenz
Dabei ist derjenige von den beiden Teilern von p, der normiert ist wie in der Artinschen Beilage angegeben.44 Mit S() bezeichnet Artin die zugehörige Gauss’sche Summe. Das Kummersche Problem besteht darin, herauszufinden, wie groß der Anteil derjenigen Primzahlen p ist, für welche S() in einen bestimmten Winkelsextanten fällt, oder, damit gleichbedeutend, für welche eine bestimmte Anordnung für die reellen Zahlen 0,1,2 vorliegt (in der Bezeichnungsweise von Artin).
Es erscheint bemerkenswert, dass Artin auf dem Zettel, den er dem Brief an Hasse beilegt, das Kummersche Problem ausführlich beschreibt, unter Beifügung der Tabellen von Kummer. Diese Beilage enthält eigentlich nur das, was ohnehin bekannt war, abgesehen vielleicht von den Tabellen für A und B, die aber ganz elementar zu berechnen sind. Hatte Artin angenommen, dass Hasse das Kummersche Problem nicht kannte? Das Problem wird doch im Hilbertschen Zahlbericht zumindest erwähnt, und der Zahlbericht war Artin und Hasse wohlbekannt. Vielleicht hatte Artin die Tabellen von Kummer nachgerechnet und wollte nunmehr Hasse das Ergebnis seiner Rechnungen präsentieren? Das erscheint allerdings unwahrscheinlich. Wie uns Prof. S. Patterson schreibt „sind die Summen mit der Hand etwas unangenehm zu berechnen, weil man mit langen Dezimalzahlen arbeiten muss“. Patterson fährt fort:
Ich nehme an, dass er [Artin] die Werte der kubischen Summen nicht nachgerechnet hat - er hat die Primzahlen p 1 mod 6 von Kummer übernommen und die Werte von A und B nachgerechnet. Er behauptet ja auch nicht, dass er alles nachgerechnet hat. Kummer listet die Primzahlen p zu den drei Klassen auf. Ich nehme an, dass Artin versucht hat, diese zu interpretieren, um die Beobachtungen von Kummer mit den Sätzen von Frobenius (und ggfs. Tschebotareff ) zu erklären. Es ist ihm natürlich nicht gelungen, aber dies war von vornherein nicht klar.
Ich glaube nicht, dass Artin sich öffentlich zu dem Kummer-Problem geäussert hat. Das Problem fand im späten 19.Jh. und frühen 20.Jh. in der Literatur wenig Beachtung. Es gab überhaupt keine Methoden – sogar die klassischen Methoden der analytischen Zahlentheorie wurden erst gegen 1900 etabliert. Auch Hilbert geht nicht darauf ein, obwohl er die Arbeiten von Kummer zitiert. Mein Eindruck ist, dass Hasse derjenige war, der die Aufmerksamkeit der Zahlentheorie-Gemeinde auf dieses Problem gelenkt hat.
In der Tat hat Hasse später, im Jahre 1950, das Kummersche Problem ausführlich dargestellt, nämlich in seinem Buch „Vorlesungen über Zahlentheorie“ [Has50]. Dort berichtet er über das von Kummer an seinem numerischen Material gefundene Verhältnis 3 : 2 : 1 das Artin in seinem Brief als „rätselhaft“ bezeichnet, und er stellt fest, dass sich dieses Verhältnis auch in den Primzahl-Zerlegungstypen der nichtabelschen, kubischen Zahlkörper findet. Jedoch hält Hasse es nicht für wahrscheinlich, dass es sich bei der Kummerschen Klasseneinteilung um die Widerspiegelung eines Zerlegungsgesetzes handelt. Jedenfalls bezeichnet Hasse in seinem Buch „die Inangriffnahme der Kummerschen Vermutung als eine lohnende, reizvolle Aufgabe.“
Die Lösung des Kummerschen Problems wurde erst 1979 von Heath-Brown und Patterson gefunden [HBP79]. Und zwar anders, als es die numerischen Experimente von Kummer suggerieren. Statt des Verhältnisses 3 : 2 : 1 stellte sich nunmehr heraus, dass in Wahrheit Gleichverteilung vorliegt.