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07.10.1929, Noether an Hasse



Inhalt:

Glückwunsch zu H.s Berufung nach Marburg. Aussichten für Levitzky? Alexandroff nach Halle? Hyperkomplexe Ansätze zum Umkehrsatz der Klassenkörpertheorie.


Göttingen, 7. 10. 29

Lieber Herr Hasse!

Zuerst meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Berufung nach Marburg! Ich wußte von dem Vorschlag, nicht aber von der erfolgten Berufung. Es scheint mir sicher, daß Sie annehmen werden1), und so habe ich gleich einige Wünsche.

Zuerst, sollten Sie etwa eine Assistentenstelle bewilligt erhalten, so würde ich mich sehr freuen, falls Sie Levitzky mit berücksichtigen würden. Er ist augenblicklich, zum erstenmal seit sieben Jahren, nach Hause gefahren; es ist aber sehr möglich, daß er im Lauf des Winters wiederkommt, und er wird sicher kommen, wenn er eine Anstellung in Aussicht hat.2)

Das andere ist die Frage, ob es möglich ist, Alexandroff in Halle mit auf die Liste zu bringen. Ich weiß, daß Alexandroff es sich sehr wünscht, mit der Zeit an eine deutsche Universität zu kommen. Und da all seine Arbeiten in deutschen Zeitschriften publiziert sind - oder auch in Amerika in deutscher Sprache - wird vielleicht der Ausländer dort keine allzu großen Schwierigkeiten machen, zumal seine wissenschaftliche Bedeutung ja unbestritten ist. Außerdem schreibt er jetzt seine “Topologie” für die gelbe Sammlung; und schließlich hat er schon zwei Sommer für die Göttinger Gastvorlesungen von der Regierung Bezahlung erhalten, sogar mit Steuer-Abzug. Er liest übrigens diesen Winter neben Topologie auch Galoissche Theorie, natürlich modern; und arbeitet immer intensiv in Seminaren mit seinen Leuten. Es sind ja auch schon in den Annalen Arbeiten verschiedener Schüler von ihm erschienen, und weitere werden noch kommen. Daß er die deutsche Sprache vollkommen und fehlerlos beherrscht, werden Sie wissen.3)

Damit wäre ich mit meinen Ausländer-Wünschen zu Ende!

Ihr Kalkutta-Himalaja-Vergleich ist sehr richtig. Wenn es möglich sein wird, mit hyperkomplexen Ansätzen noch in die arithmetischen Teile des Umkehrsatzes4) einzudringen, so glaube ich, werden diese Ansätze in einer Fortentwicklung meiner Prager Differentensätze5) liegen - verbunden mit der formalen Theorie des Gruppenrings. Aber wann wird man so weit sein? Die Möglichkeit selbst ist ja gar nicht bewiesen - und doch scheint mir der Umkehrsatz als Struktursatz mit analytischen Methoden nichts zu tun zu haben! 6) Jedenfalls hoffe ich, aus Ihren neuen Arbeiten einiges lernen zu können!

Beste Grüße, Ihre Emmy Noether.
       

Anmerkungen zum Dokument vom 7.10.1929

1Hasse hatte den Ruf nach Marburg als Nachfolger von Hensel erhalten. Hensel war der “Doktorvater” von Hasse gewesen, und er war nun sein “väterlicher Freund” (nach den eigenen Worten Hasses). Deshalb konnte Noether (und auch alle anderen Mathematiker, die Hasse kannten) durchaus davon ausgehen, dass Hasse dem Ruf nach Marburg folgen würde. Er trat die Stelle in Marburg zu Ostern 1930 an.

2Zu Levitzky siehe Brief * vom 12. 8. 1929.

3Der russische Mathematiker Paul Alexandroff (1896-1982) war oft zu Gast in Göttingen bei Emmy Noether. Und Emmy war 1928/29 in Moskau gewesen, auf Einladung von Alexandroff. Seine Arbeiten zur algebraischen Topologie wurden stark von Noether beeinflusst, insbesondere das auch von Noether erwähnte wegweisende Buch “Topologie”, das er zusammen mit Heinz Hopf publizierte AleHop:1935 . Dass er damals gerne einen Lehrstuhl in Deutschland angenommen hätte, war bisher nicht allgemein bekannt und ist nur durch diese Briefstelle von Emmy Noether belegt. Übrigens ist der Vorschlag von Noether offenbar nicht weiter verfolgt worden. Der Nachfolger von Hasse in Halle wurde Heinrich Brandt, der sich durch seine Arbeiten zur Arithmetik der Algebren verdient gemacht hatte. - Einige Briefe von Noether an Alexandroff sind kürzlich gefunden worden; sie wurden von Renate Tobies herausgegeben Tob:2003 .

4Es handelt sich um den Umkehrsatz der Klassenkörpertheorie. Er stammt von Takagi und besagt, dass jeder relativ-abelsche Körper als Klassenkörper beschrieben werden kann.

5 Hier bezieht sich Noether wiederum auf ihren Vortrag auf der DMV-Tagung in Prag 1929, publiziert in Noe:1983 .

6Eine Methode, den Umkehrsatz ohne Benutzung analytischer Hilfsmittel zu beweisen, wurde erst viel später durch Chevalley und Nehrkorn CheNeh:1935 angegeben.