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15.03.1932, Taussky an Hasse (mit Zusatz Noether)



Inhalt:

Brief von Taussky mit Noethers Kritik an Hasses Artikel über die algebraisch-zahlentheoretischen Arbeiten Hilberts.


Göttingen, 15. März 1932

Sehr verehrter Herr Professor,1)

Fräulein Professor Noether machte uns eben darauf aufmerksam, dass in Ihrem Nachwort zu Hilberts algebraisch-zahlentheoretischen Arbeiten die historischen Angaben über die Hilbert-Dedekindsche Theorie des Galoisschen Zahlkörpers sich zu widersprechen scheinen, da einmal von den völlig neuartigen Entdeckungen Hilberts und dann von den früheren Untersuchungen von Frobenius die Rede ist. (Die betreffenden Stellen bei Frobenius und Dedekind sind die Einleitung zu der Arbeit von Frobenius über die Dichtigkeitssätze in den Sitzungsberichten der preuss[ischen] Ak[ademie] d[er] Wiss[enschaften] 1896, Bd. I, S. 689 und die Arbeit, bzw. Briefe Dedekinds in Werke Bd. I. S. 233 und Bd. II S. 414.)

Da wir noch eine Revision bekommen, liessen sich vielleicht noch kleine Änderungen anbringen, etwa die folgenden, drucktechnisch leicht möglichen:

I. Seite 529, Zeile 7 von unten das Wort “v¨ollig” zu streichen,

II. 533, in dem Absatz nach dem Artinschen Reziprozit¨atsgesetz die beiden S¨atze
dieses Absatzes zu vertauschen und in dem bisherigen ersten Satz etwa zu
schreiben: “Die Existenz und eindeutige Bestimmtheit einer solchen Substi-
tution S ist in der von Hilbert in 4. unabh¨angig von Dedekind und Frobenius
entwickelten Theorie der Galoisschen K¨orper enthalten.”

Im voraus besten Dank und freundliche Grüsse

Olga Taussky

Lieber Herr Hasse! 2)

Daß ich als historischer Stänker auftrete, daran ist die Dedekind-Ausgabe schuld! 3) Der Brief ist aber nicht so offiziell - oder ultimativ - gemeint wie er aussieht!

Was mich störte war, daß Sie die Verbindung von galoisscher Theorie und Idealtheorie als das Prinzipiell Neue bei Hilbert hinstellen, während Dedekind daran (an der angegebenen Stelle4) in Bd. I z.B.) doch zumindest soviel publiziert hatte - besessen hat er ja das ganz mit Ausnahme der Verzweigungsgruppen - daß Frobenius sich damit schon 1880 die Frobenius-Substitution konstruieren konnte (vergl. Einleitung zu Frobenius). Und der Dichtigkeitssatz von 1880 (wenn auch 1896 publiziert) ist doch gerade diese Verbindung! 5)

Formal rächt sich diese Ungenauigkeit bei Ihnen in dem oben von Frl. Taussky angegebenen Widerspruch !

Dabei will ich keineswegs verkennen, daß erst durch Hilbert diese Sachen für die Zahlentheoretiker völlig lebendig geworden sind - und daß Hilbert aller Wahrscheinlichkeit nach alles völlig unabhängig wiedergefunden hat.

Im übrigen sind vermutlich die anderen nicht solche Haarspalter wie ich, falls Sie alles beim Alten lassen wollen! 6)

Herzliche Grüße, Ihre Emmy Noether.

Mit dem Hauptgeschlechtssatz bin ich einstweilen noch nicht weiter gekommen; man muß jetzt erst einmal Brandt verstehen, im Sinn der Darstellung in Bereichen aus Idealen.7)
        

Anmerkungen zum Dokument vom 15.3.1932

1Dieser Brief wurde von Olga Taussky mit Schreibmaschnine geschrieben, und Emmy Noether gab anschliessend einige handschriftliche Kommentare dazu. - Olga Taussky (später Taussky-Todd) war 1930 in Wien bei Furtwängler mit einer Arbeit über Klassenkörper promoviert. 1931/32 hatte sie eine Assistentenstelle in Göttingen inne und wurde beauftragt, bei der Herausgabe des ersten Bandes der Gesammelten Werke von Hilbert mitzuarbeiten. Es handelte sich um den Band über Zahlentheorie Hil:1932 . Ihre Aufgabe war es, die zahlentheoretischen Arbeiten von Hilbert auf Fehler und Druckfehler durchzusehen, sowie die Korrekturen zu überprüfen. Dazu gehörte auch die Korrektur des Artikels von Hasse, in dem ein Gesamtüberblick über die algebraisch-zahlentheoretischen Arbeiten Hilberts gegeben wurde; dieser Artikel Has:1932b findet sich am Schluss des ersten Bandes der Hilbertschen Werke.

2Die nachfolgenden Kommentare stammen von Emmy Noether.

3Emmy Noether hatte (zusammen mit Robert Fricke und Öystein Ore) die Gesammelten Mathematischen Werke von Dedekind Ded:1932 herausgegeben.

4Siehe den vorstehenden Brief von Olga Taussky.

5Es ist merkwürdig, dass Noether nicht die Arbeit von Dedekind zitiert, in der er die sog. Dedekind-Hilbertsche Theorie darstellt (mit Ausnahme der Verzweigungsgruppen, wie auch Emmy Noether zugibt). Diese Arbeit ist in Band 2, Nr. XXIV der gesammelten Werke von Dedekind Ded:1932 aufgenommen. Wahrscheinlich ging Noether davon aus, dass Hasse diese Arbeit von Dedekind kannte; durch die angegebenen Zitate wollte sie lediglich nachweisen, dass Dedekind die Resultate schon früher als Hilbert kannte, also die Hassesche Aussage über die “völlig neuartigen” Entdeckungen Hilberts nicht ganz zutreffend sei.

6Hasse hat den Vorschlag zu Punkt I des Briefes von Olga Taussky akzeptiert: das Wort “völlig” ist gestrichen worden. Zu Punkt II: Hasse hat zwar den ersten Satz in der von Olga Taussky angegebenen Weise umformuliert, dann aber davon Abstand genommen, die beiden Sätze zu vertauschen, d.h. er erwähnt zuerst Hilbert und dann erst Frobenius.

7Es ist nicht ganz klar, welche Arbeiten Brandts gemeint sind; die relevanten Arbeiten Brandts und Artins zu der Idealtheorie in nichtkommutativen Maximalordnungen liegen schon ein paar Jahre zurück. Vielleicht handelt es sich um die Galois-Kohomologie der Ideale, die Noether im September 1932 auf ihrem Vortrag bei der IMU-Konferenz in Zürich andeutete?